Franziska Davies / Katja Makhotina:
Offene Wunden Osteuropas – Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs
Darmstadt: WBG Theiss 4/2022, 288 S.
— ISBN 978-3-8062-4432-8 —
Franziska Davies und Katja Makhotina im Gespräch mit Christian Rabhansl
Vorstellung des Buches bei Deutschlandfunk Kultur
Verlagsinformation
»Angesichts des Putinschen Angriffskriegs ein wichtiges Buch darüber, warum vor allem die Deutschen verpflichtet sind, der Ukraine zu helfen.«
Süddeutsche Zeitung online
Dr. Franziska Davies ist die Tochter eines Briten und einer Deutschen aus Königsberg/Kaliningrad. Sie lehrt die Geschichte Ost- und Südosteuropas am Historischen Seminar der LMU München. Ekaterina Makhotina ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas an der Universität Bonn tätig. Ihr Manuskript war fast fertig, als Putin die Ukraine angriff, und die Autorinnen – mit familiären Wurzeln in Osteuropa – dies im Vorwort und Epilog noch einarbeiten konnten. Makhotina und Davies sind hier nicht nur nüchterne Historikerinnen, sie vertreten ihren Standpunkt klar und mit der nötigen Emotionalität: „Man wird hierzulande nicht mehr sagen dürfen, man habe aus der Vergangenheit gelernt, wenn man die Menschen in der Ukraine jetzt im Stich lässt.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers Botschaft zum 80. Jahrestag: „Das Menschheitsverbrechen des Holocaust begann nicht erst in den deutschen Todesfabriken: in Auschwitz, Treblinka, Sobibór, Majdanek, Belzec. Es begann schon früher, auf dem Eroberungsfeldzug Richtung Osten, in Wäldern, am Rande von Ortschaften. Weit mehr als eine Million Juden fielen diesem Holocaust durch Kugeln in der Ukraine zum Opfer – in Kiew, in Odessa, in Berdytschiw, Lypowez, Czernowitz, Mizocz – und in so vielen anderen Orten. Wer in meinem Land, in Deutschland, weiß heute von diesem Holocaust durch Kugeln? Wer kennt sie, diese mit Blut getränkten Namen? All diese Orte haben keinen angemessenen Ort in unserer Erinnerung. Die Ukraine ist auf unserer Landkarte der Erinnerung nur viel zu blass, viel zu schemenhaft verzeichnet.“
Angesichts des Angriffskrieg gegen die Ukraine bietet das Buch „Offene Wunden Osteuropas“ dieser beiden Erinnerungen und provoziert die Frage: „Haben wir die falschen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen, vielleicht auch deswegen, weil über achtzig Jahre nach seinem Beginn die Erinnerung an den Krieg im östlichen Europa so lückenhaft ist?“ Davies und Makhotina meinen, die deutsche Erinnerungspolitik habe sich auf „Auschwitz und den anonymen technologisierten Massenmord“ an den europäischen Juden konzentriert. Aus vielen Gründen (Kalter Krieg, usw..) wurde bis 1989 die Perspektive in Osteuropa auf die Zeit von 1939 bis 1945 kaum beachtet. Die Autorinnen haben sich darum auf den Weg zu zwölf Orten in der Ukraine, in Belarus, im Baltikum, in Polen und in Russland gemacht – oft zusammen mit Geschichtsstudenten, um auf ihren Reisen über die historischen Zusammenhänge und die Erinnerungsarbeit in Sowjetzeiten und danach etwas zu erfahren. Meist treffen sie dabei auf Zeitzeugen oder Museumspädagogen, die die Dinge anschaulich machen.
Hier entsteht fast eine Gesamtdarstellung des Vernichtungskriegs angesichts der Leerstellen deutscher Erinnerungskultur. So sei daran erinnert, dass im KZ „Neuntes Fort“ in Kaunas früher gemordet wurde als in Auschwitz, Treblinka und Majdanek: Litauen war ein „Testgelände für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden“. So sagen die beiden Erinnerungsreisenden: „Es fiel uns emotional schwer, Geschichten des Raubes, der Aushungerung, der Gewalt und der Vernichtung zu erzählen, wie sie uns von den Opfern selbst überliefert wurden. Wir hätten dieses Buch womöglich früher schreiben sollen. Seit über ca. 50 Tagen sind Geschichten der Gewalt wieder Realität, sie klingen ganz ähnlich, sie offenbaren abermals die Banalität des Bösen und der menschlichen Gleichgültigkeit. Der neue Krieg Russlands gegen die Ukraine wird neue Wunden schaffen, die alten aufreißen und für immer schmerzen lassen.“ Aktuell ein empfehlenswertes Buch für viele Leserinnen und Leser.
Man muss sich das wirklich klarmachen: Ab 1945 wurde lediglich an „antifaschistische“ Kämpfer, Helden und Märtyrer erinnert und jüdische Opfer marginalisiert sowie einstige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die in die Arbeitslager verschleppt, brutal behandelt wurden und für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten mussten. Dazu wurden sie noch in ihrer Heimat als „Verräter“ beschimpft.
Nach 1989/91 setzte dann vielerorts zudem eine „Nationalisierung der Erinnerung“ ein. Auch diese zum Teil besorgniserregenden Entwicklungen nehmen die Autorinnen in den Blick. Damit werden einige „Schieflagen“ der Erinnerungskultur noch mal komplexer, zumal vor allem nationalkonservative Sichtweisen zu zahlreichen alten und neuen Konflikten, zu Opferkonkurrenz und gegenseitiger Schuldaufrechnung führen.
An die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zu erinnern, gilt als Basis eines freien, geeinten Europas. Woran aber wird in Deutschland erinnert und woran in den Staaten Osteuropas? Bei näherer Betrachtung erweist sich die deutsche Erinnerungskultur an den Vernichtungskrieg im östlichen Europa als lückenhaft.
Das historische Reich der Kyiver Rus in Russland und der aktuelle russische Angriffskrieg mit zehntausenden Opfern wird in Russland und Belarus uminterpretiert. Mit einer „Entnazifizierung“ der Ukraine sollen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland wiederholt werden. Der gegenwärtige Krieg wird bereits im Kyiver Museum des 2. Weltkriegs durch Objekte des aktuellen Krieges in einer Sonderausstellung gezeigt:
Bomben auf Kyiv für ein imperiales Großrussland, in dem die Ukraine keinen Platz hat?
Der Epilog von Franziska Davies und Katja Makhotina ist zugleich eine Demonstration und eine Solidaritätsbekundung.
Und nun zu den einzelnen Orten der Reise
Warschau und die beiden großen Aufstände gegen die deutsche Besatzung sind Einstiegsthema in die Publikation – ebenso die Auseinandersetzung mit den im „ Generalgouvernement“ gelegenen Mord- und Vernichtungsstätten Bełżec und Majdanek.
Die Rolle des „Judenrats“, insbesondere seines Vorsitzenden Adam Czerniaków sowie der jüdischen Ghetto-Polizei, wird kritisch dargestellt. (S. 34).
Der Warschauer Aufstand 1944 ist das zweite große Thema des Kapitels: Basierend auf dem „Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 14. August 1939“ und einem geheimen Zusatzprotokoll, mit dem Teile von Polen und die baltischen Staaten der Sowjetunion zugeschlagen wurden. Auch das stalinistische Massaker 1940 an polnischen Kriegsgefangenen in Katyn werden in die polnische Geschichte eingeordnet. Das Museum des Warschauer Aufstands für eine heroische historische Sichtweise im Sinne der rechtskonservativen polnischen Partei (PiS) grenzt an Propaganda.
Babyn Jar: In der durch Baumaßnahmen gewandelten Schlucht im heutigen Stadtgebiet von Kyiv wurden zehntausende Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, durch Erschießungskommandos im Holocaust by Bullets ermordet.
Auschwitz als Erinnerung für den industrialisierten Massenmord durch Giftgas ist ein Symbol für die NS-Vernichtungspolitik an der jüdischen Bevölkerung Europas geworden. Neben dem Stammlager und Auschwitz-Birkenau sei an das Zwangsarbeitslager Auschwitz-Monowitz und 50 weitere Außenlager erinnert.
Das Auschwitz-Lagertor mit der Aufschrift Arbeit macht frei‘ wurde quasi zur „Ikone der Vernichtung.
Bełżec, Sobibór und Treblinka wurden speziell zur Vernichtung des polnischen Judentums erbaut – aufgrund „Aktion Reinhardt“. Aber die Erschießungsplätze für Hunderttausende erhielten keine vergleichbare Aufmerksamkeit.
Davies und Makhotina erinnern bewusst an die Orte der „Vernichtung des sowjetischen Judentums“ (S. 94), weil es kein entsprechendes Bildgedächtnis gibt und weil die Täter die Spuren ihres Mordens verwischen konnten. So ist die heutige Erinnerungslandschaft Babyn Jar ausgesprochen heterogen.
Stalingrad / Leningrad: Musealisierung des Krieges im Kriegsverlauf:
Die Autorinnen sammeln für die Schlacht um Stalingrad von Materialien und Relikte, sie führen Interviews mit Zeug*innen und Kriegsteilnehmer*innen, die den Krieg noch miterlebt haben (S. 147); diese Arbeit findet derzeit auch in der Ukraine im Horozont des gegenwärtigen Krieges statt. Das Kyiver Museum für die Geschichte der Ukraine im 2. Weltkrieg bringt eine Sonderausstellung mit Relikten und Artefakten von den jüngsten Schlachtfeldern in den Kyiver Vororten.
Das Museum für die Schlacht um Stalingrad, das 1948 eröffnet wurde (S. 147), hieß noch während des Bürgerkrieges Zarizyn. Das Stadtmuseum trägt den Namen „Museum der Verteidigung von Zarizyn-Stalingrad“ und war beiden Kriegen gewidmet. Die Gedenkstätte „Mutter-Heimat ruft“ wurde 1967 dort eingeweiht, als die Stadt bereits sechs Jahre lang den Namen Wolgograd trug.
Kleine Erinnerungsstätten an den Sieg der Roten Armee wurden bereits in den letzten Kriegsjahren in der Sowjetunion gebaut. Die Großdenkmäler, die an die Heldentaten der Roten Armee gemahnen sollten, wurden außerhalb der Sowjetunion errichtet: 1945 das Heldendenkmal der Roten Armee am Wiener Schwarzenbergplatz, das sowjetische Ehrenmal im Berliner Tiergarten, 1949 das Ehrenmal im Treptower Park in Berlin.
Auch das Museum der Verteidigung von Leningrad wurde noch während des Krieges eröffnet, im Frühjahr 1944. Leningrad sollte aus der Sicht Deutschlands vernichtet werden und alle Bewohner*innen sollten verhungern. Aus sowjetischer Sicht waren alle heldenhafte „Blokadniki“.
Die Vernichtung des litauischen Judentums und jüdischer Widerstand
Besonders gilt „die Ermordung des litauischen Judentums als fremde Tragödie bei der blutigen Auseinandersetzung zweier Totalitarismen – des Nationalsozialismus und des Kommunismus …“ (S. 178). Die äußerst blutige, sowjetische Besatzung 1940/41 infolge des geheimen Zusatzabkommens ergänzt die antijüdische Gewalt der litauischen Bevölkerung während der deutschen Besetzung: Davies und Makhotina zeichnen eine erschreckende Kollaborationsbereitschaft „Massengewalt der Litauer an ihren jüdischen Nachbarn“ (S. 181). In fünf Monaten waren bereits 133.346 Menschen, besonders viele Jüdinnen und Juden, aber auch Roma und andere, ermordet worden. Die Frage stellt sich „wie so wenige Deutsche im besetzten Land so schnell so viele Menschen umbringen konnten“ (S. 190 mit der Ausstellung im Neunten Fort in Kaunas). Hier konzentrierte sich offenbar die Ausrottungsgewalt.
So muss man resümieren: Mittelosteuropa war der zentrale Schauplatz der Shoah und gleichzeitig Ort des deutschen Vernichtungskrieges gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung. Krieg und antisemitische Massenvernichtung sind direkt miteinander verknüpft. So werden die Anerkennung des Leids von jüdischen wie nicht-jüdischen Opfern sowie die Aufarbeitung der Formen von Kollaboration und Mittäterschaft in den besetzten Ländern höchst relevant.
Das Mitwirken von Teilen der lokalen Bevölkerung bei der Vernichtung des europäischen Judentums darf nicht ausgeblendet werden, ändert aber nichts an der deutschen Haupttäterschaft der Shoah.
Zur weiteren Beschäftigung mit dieser brisanten Thematik geben beide Autorinnen gute Film- und Literaturhinweise zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik.
Vgl.: Rezension von Juliane Niklas und Ingolf Seidel in Hagalil online, 28.06.2022 – 29. Siwan 5782
Vertiefende Lektüre:
Timothy Snyder: Osteuropäische Einblicke seit 1933 – und ein Tagebuch des Ukrainekrieges
— Timothy Snyder: Bloodlands
EUROPA ZWISCHEN HITLER UND STALIN 1933-1945
München: C.H. Beck 2022, 6. erw. Aufl., 541 S., 36 Karten ISBN 978-3-406-79394-3
— Sergej Gerassiwov & Andreas Breitenstein:
Ein ukrainisches Kriegstagebuch / Einblicke in Russlands Überfall auf Charkiw.
München: dtv 2022, 256 S. – ISBN: 978-3-423-44124-7
Literaturhinweise:
Erinnerungskulturen im östlichen Europa in Form von Gedenkstätten, Mahnmalen, Monumenten und Museen als Teil des Deutsch-Sowjetischen Krieges , der 2. Weltkrieg – als Großer Vaterländischer Krieg in der sowjetischen Historiografie – sind im Westen weitgehend unbekannt. Nur wenige Publikationen des vergangenen Jahrzehnts widmen sich explizit dieser Lücke, darunter insbesondere:
- Stefan Troebst und Johanna Wolf (Hrsg.): Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa. Leipzig 2011
- Martin Langebach und Hanna Liever (Hrsg.): Im Schatten von Auschwitz. Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine: begegnen, erinnern, lernen. Bonn 2017
- Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin 1998.
- Fatigarova, Natal’ja Vasil’evna: Muzejnoe delo v RSFSR v gody Velikoj Otečestvennoj vojny (aspekty gosudarstvennoj politiki). [Museumstätigkeit in der RSFSR in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges (Aspekte der staatlichen Politik).].
In: Kasparinskaja, Svetlana Aleksandrovna (Hrsg.): Muzej i vlast‘. Sbornik naučnych trudov. Tom 1. [Museum und Macht. Sammelband wissenschaftlicher Arbeiten. Band 1.] Moskva 1991, S. 173-225. - Olga Sajontschkowskaja: Das Panorama-Museum der Stalingrader Schlacht. Nürnberg 2005, 2. Aufl.
- Andrea Zemskov-Züge: Zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft. Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943-1953. Göttingen 2012.
- Elie Wiesel «Un di Velt Hot Geshvign» – «Und die Welt hat geschwiegen», 1956
in Buenos Aires auf Jiddisch, etc. - Bundeszentrale für politische Bildung [bpb] – Livestream: „Erinnerung in der Krise“ zum 81. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941: YouTube
- bpb Veranstaltungskalender
- NS-Dokumentationszentrum München
Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn