Islamische (Zerr-)Spiegelungen im deutschen Blickfeld (aktualisiert)

Alfred Schlicht: Gehört der Islam zu Deutschland?
Anmerkungen zu
einem schwierigen Verhältnis.
Zürich: Orell Füssli 2017, 232 S. — ISBN 978-3-280-05644-8 —

Die These des vormaligen
Bundespräsidenten Christian Wulff „Der Islam gehört zu Deutschland“, hat eine
Debatte angeheizt, die sich seitdem nicht mehr gelegt hat. Ablehnung und Skepsis
gegenüber dem Islam kennzeichnen einen großen Teil der deutschen Bevölkerung. Die
dramatischen politischen Veränderungen in der Türkei und die hohe Zustimmung
zur Politik Erdogans bei den Menschen mit türkischen Hintergrund in Deutschland
haben ganz sicher nicht zur Verbesserung dieser beunruhigenden Werte
beigetragen – im Gegenteil.

In einer solchen gesellschaftlichen
Krisensituation ist man gespannt, wenn sich ein Kenner muslimischer Länder zu
diesem Themenkomplex äußert. Alfred Schlicht hat als Orientalist und deutscher
Diplomat viele Jahre im Nahen Osten gelebt. Die Städte Sana’a, Beirut, Kairo
und Amman sind ihm besonders vertraut. Er hat dadurch auch hautnah erlebt, wie
der Koran zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror von bestimmten islamischen
Gruppen missbraucht wurde.

So beginnt das Buch im 1. Kapitel
mit einer Art kritischem Koran-Kommentar unter Heranziehung von Sure 9,28: „Die
Ungläubigen sind Schmutz“. Allerdings lässt sich angesichts der „Flexibilität“
der arabischen Sprache fragen, ob man diese Formulierungen als wörtliche Zitate
ausgeben darf. Nach diesem Paukenschlag geht der Autor differenzierter mit der
Stellung
von Andersgläubigen und Ungläubigen unter islamischer Herrschaft
um.
Dass selbst
das Dhimmi-System im heutigen Sinne keine Gleichberechtigung von religiösen
Minderheiten ist, liegt auf der Hand (S.17). Und es ist leider ebenfalls
richtig, dass der Salafismus als Frucht extrem konservativer Koran-Auffassung für
Andersgläubige nichts Gutes erwarten lässt.

Im 2. Kapitel erläutert Schlicht dschihad als „Heiligen Krieg“, was aber
nicht der Wortbedeutung entspricht: vielmehr ist
dschihad Anstrengung, und nur bei der Bedrohung des Glaubens darf
Gewalt ausgeübt werden. Darum kann man auch die schwierige Unterscheidung zu
Dar al-Harb (Haus des Krieges) und Dar al-Islam (Haus des Friedens) nicht so
zusammenfassen: „Ein dauerhafter Frieden mit der nichtislamischen Welt ist im
islamischen Staats- und Völkerrecht nicht vorgesehen“ (S. 24). Der Grund ist
geradezu banal: Das islamische Recht ist generell nicht endgültig fixiert und wird
regional sehr unterschiedlich ausgelegt. Dass islamische Herrscher ihre
Eroberungsfeldzüge religiös begründeten (ähnlich wie die Christen) zeigt nur,
dass der Koran eben auch militant interpretiert werden kann – bis hin zum
islamistischen Terrorismus.
Im 3. Kapitel hinterfragt der
Autor dann die
Friedenstendenzen im Islam. Dass Koran und Sunna in
Geschichte und Gegenwart auch gewalttätig ausgelegt wurden und
werden, ist leider wahr und verschärft dadurch Tendenzen in einem Islamverständnis, das von der Abgrenzung gegenüber dem Westen lebt und offensichtlich auf
Ausgegrenzte erhebliche Faszination ausübt. Hier wäre eine genauere
Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Entwicklungslinien islamischer
Geschichte einerseits und mit Mouhanad Khorchide andererseits hilfreich gewesen
(bes. S. 45), gerade
weil es im Islam
keine Deutungshoheit – auch zum Thema
Gewalt 
 gibt.
Das 4. Kapitel beschäftigt sich der Autor mit Variationen des wirklich gefährlichen islamistischen Terrors:
Al-Kaida, Boko Haram, Al-Shabaab, Taliban, der „Islamische Staat“ und einige
weitere Beispiele des „bunten Terrormosaiks – weltweit“ (S. 75ff). Es ist nicht unwichtig anzumerken, dass die meisten Opfer der Terrorgruppen Muslime sind.
Für die Muslime in Deutschland,
so das
Kapitel 5, zeichnet der Schlicht in Konsequenz des bisher Gesagten eine beunruhigende Negativsituation: Das absolut gesetzte göttliche Wort des
Korans steht für viele Muslime über dem Grundgesetz, islamischer Antisemitismus
ist keine Randerscheinung, und Extremisten kommen als getarnte Flüchtlinge nach
Deutschland. Der Vorrang der Männer vor den Frauen, sog. Ehrenmorde,
Zwangsheiraten und Kinderehen, Kampf gegen Satire, Ablehnung der Pressefreiheit
u.a.m. scheinen keinen Reformislam zuzulassen. Hier schlägt zugleich eine
belehrende Mentalität durch, nämlich was
die
Muslime bei uns und von uns noch lernen müssen! Es bringt m.E. nichts, nur
(unbestrittene) Negativbeispiele aus der Parallelgesellschaft muslimischer
„Cluster“ (S. 135) vorzuführen und einzelne Statistiken verallgemeinernd als
Beleg anzugeben.
Dass nun der Verfasser auch noch mit einem
„Scharia“-Begriff arbeitet, den selbst konservative islamischen Theologen nicht
benutzen, ist wirklich ärgerlich, zumal Mouhanad Khorchide (und andere) hierzu Wesentliches
gesagt haben:
Scharia als
Lebensorientierung und Rahmen für islamische Gesetzgebung
(Schlicht hat Khorchides: Scharia –
der missverstandene Gott
doch im Literaturverzeichnis!)
. Dass der Begriff Scharia als (brutales) Disziplinierungsreglement von
radikalen Muslimen benutzt wird (S. 139-141, bis hin zur „Scharia-Polizei“, S. 141), ist leider
ebenso wahr wie die Tatsache, dass islamistische Scharia-Interpretationen die
Vorurteile auf beiden Seiten nur noch weiter hochschaukeln.
Was lehrt uns dies alles? Im 6.
Kapitel
bejaht Schlicht zwar, dass der Islam zu Deutschland gehört. Aber
ganz im Jargon des politischen Schlagabtausches stellt er fest, das Multikulti
gescheitert ist, aber Integration notwendig sei – als unabgeschlossener
dynamischer Prozess (S. 169). Also keine Islamophobie, aber auch kein
Kuschelkurs. Leider gelingt es dem Autor auf diese Weise nicht, den
Begriffsdschungel der gesellschaftlichen Islamdiskurse zu lichten. Schlichts
Bilanz klingt insgesamt wenig ermutigend. Zwar ist es richtig, Grenzen
aufzuzeigen, wo die freiheitlich-demokratische Gesellschaft bedroht wird, aber
zum Optimismus verdammt zu sein (S. 199), reicht nicht, um islamische Identität
unter den Vorgaben des Grundgesetzes zu stärken. Vielmehr müssen diejenigen
Muslime (gerade auch Theologen) öffentlichkeitswirksamer zu Worte kommen,
die die Absolutheitsansprüche und Verschwörungstheorien der Radikalen und
Gewaltbereiten kompetent widerlegen. Denn die variantenenreiche
Auslegungsgeschichte des Korans und der Sunna ermöglichen auch, die islamischen
Friedensaussagen für  eine
multikulturelle Gesellschaft zum Tragen zu bringen. 
Schade, dass ein guter
Kenner der arabischen Welt seine „Anmerkungen“ überwiegend an einer
Negativ-Folie des Islams festgemacht hat.

Interview mit Alfred Schlicht in „Buchszene“ vom 14.08.2017:
Gehört der Islam zu Deutschland? – Eine brisante Frage



Interview mit Alfred Schlicht im „Deutschlandfunk“ vom 11.09.2017
Islamdebatte: „Religion schottet die Menschen ab“


Älterer (empfehlenswerter) Titel des Verfassers: Die Araber und
Europa (2008).

Rezension: https://buchvorstellungen.blogspot.de/search?q=Schlicht




Im Blick auf die Analysen und Einschätzungen von Alfred Schlicht ist auch eine gewisse Nähe zu zwei weiteren Veröffentlichungen  im konservativen Orell Füssli-verlag von Journalisten deutlich, die ebenfalls viele Erfahrungen in der Arabischen Welt gesammelt haben.
Sie sehen den Islam gerade bei seinem Auftreten im Westen ausgesprochen kritisch:

  • Samuel Schirmbeck: Der islamische Kreuzzug und der ratlose Westen.
    Zürich: Orell Füssli 2017, 288 S.
  • Nikolas Hénin: Der IS und die Fehler des Westens.
    Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können.
    Zürich: Orell Füssli 2016, 216 S.
Ausführliche sehr positive Besprechungen im Magazin des Orell-Füssli-Verlages:
sachstark Nr. 1 (Oktober 2016), S.10-13

Reinhard Kirste


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