Mohamed Aziz Lahbabi: (Personales) Verständnis von Freiheit — Ansätze islamischer Anthropologie (aktualisiert)


Markus Kneer
Person-Sein im Dialog

Christlich-Islamische Ressourcen
des modernen Menschen
Zu einem normativ-anthropologischen Grundbegriff der christlich-islamischen Begegnung im Anschluss an
 Emmanuel Mounier 
 (1905-1950)
und Mohamed Aziz Lahbabi (1923-1993)

Regensburg: Pustet 2024, 392 S.
zugleich Habilitation Universität Regensburg
ISBN 978-3-7917-3539-9

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In der allgegenwärtigen Krisenhaftigkeit unserer Zeit taucht die Frage auf, wer und wie der Mensch ist bzw. was und wie er sein soll. Um auf diese Frage eine Antwort zu versuchen, scheint kein Begriff naheliegender als der der Person. Doch was heißt, eine Person zu sein? Reicht es aus, einer wie auch immer gearteten Definition zu entsprechen, um Person zu sein? Oder geht es nicht vielmehr darum, aus den Erfahrungen personalen Lebens heraus zu entdecken, was Person-Sein bedeutet? Diesen zweiten Weg hat die philosophische Bewegung des Personalismus beschritten: Emmanuel Mounier (1905–1950) als ihr christlicher und Mohamed Aziz Lahbabi (1923–1993) als ihr muslimischer Hauptvertreter beschreiben das Person-Sein auf Grundlage ihrer jeweiligen religiösen Ressourcen in universaler Perspektive. So zeigt sich auch, welches Potential der Begriff für die interreligiöse Begegnung hat.

Mohamed Aziz Lahbabi

Freiheit oder Befreiung?

Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson. Übersetzt, ergänzt und kommentiert von Markus Kneer
Islamkundliche Untersuchungen, Bd. 334

Berlin: Klaus Schwarz Verlag

ISBN 
9783879974658


Im Jahr 1956, zeit­g­leich mit der Unab­hän­gig­keit Marokkos, erscheint das Buch »Liberté ou libé­ra­tion? – Frei­heit oder Befreiung?« des jungen Philo­so­phen Mohamed Aziz Lahbabi (1923–1993), der als erster Marok­kaner
das
Doctorat ès-Lettres der Sorbonne erlangt. Der Schwer­punkt der Schrift liegt, anders als es der dama­lige Zeit­geist vermuten lassen könnte, nicht auf der Befreiung der Nation, sondern auf der Befreiung der mensch­li­chen Person – zugleich vom poli­tisch-kultu­rellen Kolo­nia­lismus Europas wie vom tradi­tio­nellen Patri­ar­cha­lismus der marok­ka­ni­schen Gesell­schaft. In Ausein­an­der­set­zung mit der fran­zö­si­schen Philo­so­phie der Mitte des 20. Jahr­hun­derts entwi­ckelt Lahbabi eine Philo­so­phie der Frei­heit, die den bisher in auto­k­ra­ti­schen Struk­turen lebenden Menschen einen Weg in ein selbst­be­stimmtes Leben zeigen will. Zugleich kriti­siert er einen in Abso­lut­heit gesetzten west­li­chen Frei­heits­be­griff, der den sozialen, poli­ti­schen und kultu­rellen Lebens­kon­text außer Acht lasse. 

Mohamed Aziz Lahbabi bekleidet seit 1959 als erster marok­ka­ni­scher Univer­si­tät­s­pro­fessor den Lehr­stuhl für Philo­so­phie an der neu gegrün­deten Univer­sität Mohammed V in Rabat. Ende der 1980er Jahre wird er für den Lite­ra­turno­bel­preis vorge­schlagen. Dieses Buch gehört zu den Grün­dungs­texten der modernen marok­ka­ni­schen Philo­so­phie und hat in seiner Frage­stel­lung bis heute rich­tungs­wei­senden Charakter.

Mohamed Aziz Lahbabi: Der Mensch: Zeuge
Gottes.
Entwurf einer islamischen Anthropologie.
 

Ausgewählt, übersetzt
und kommentiert von Markus Kneer. Schriftenreihe der Georges Anawati Stiftung,
Band 5. Freiburg u.a.: Herder 2011, 224 S., Literaturauswahl, ausführliche
Register

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ISBN 978-3-451-30346-3 —
Der marokkanische Philosoph M. Aziz Lahbabi (1923–1993) dürfte außerhalb
einiger Fachkreise in Deutschland ein weitgehend Unbekannter sein. Umso mehr
ist das Engagement der Georges-Anawati-Stiftung zu würdigen, eine Auswahl aus
seinem anthropologischen Werk zu ermöglichen. Der katholische Theologe und
Islamwissenschaftler Markus Kneer, zugleich Beauftragter für den
christlich-islamischen Dialog im Erzbistum Paderborn, hat in sorgfältiger
Forschungsarbeit und Recherche die Texte selbst übersetzt und mit einleitend
kommentiert. Zuerst gibt er als Herausgeber einen Überblick über Lahbabis Leben
und Werk, dem die „intellektuelle Autobiographie“ des Philosophen folgt.
Das erleichtert den Zugang insgesamt. Lahbabis zentrale Veröffentlichung „Der muslimische Personalismus“ (1964) und zwei
weitere Essays sind damit zum ersten Mal in einer deutscher Übersetzung
zugänglich.          

Das Hauptproblem liegt für den Philosophen
Lahbabi darin, ob Christen und Muslime von denselben anthropologischen
Voraussetzungen ausgehen, wenn sie vom „Menschen „ sprechen“. Die Würde des
Menschen wird auch im Koran betont, wie wirkt sie sich jedoch konkret aus? Nun
hat Lahbabi seinen islamischen Humanismus unter dem philosophisch-methodischen
Einfluss von Henri Bergson
(1859–1941) und Emmanuel Mounier
(1905–1950) entwickelt. Das erlaubt ihm (Schwerpunkt des 1. Teils) im
muslimischen Personalismus“ die Shahada als Grundlage für ein umfassendes
Verständnis von Personalität zu nutzen, das sich als Brücke für das gesamte
weitere Verstehen zwischen Orient und Okzident auswirkt und damit auch das
griechische Denken und die Weiterentwicklung von Aristoteles bis Averroës mit
ein bezieht: „Die shahada ist …
zweipolig: Indem man >bezeugt<, bejaht man die Existenz Gottes, und das
Bezeugen verweist auf die Bejahung der personalen Existenz des Zeugen; ein
immerwährendes Hin und her zwischen Transzendenz und der Immanenz, dem
Absoluten und der Endlichkeit, dem Spirituellen und Institutionellen, dem
Metaphysischen und Psychischen“ (S. 77).

Im weiteren Verlauf, in dem Lahbabi die
Balance von Körper und Seele betont, kommt auch die daraus sich ableitende
Würde des Menschen zum Ausdruck. So folgt die auslegende Theologie –
gewissermaßen um des Menschen willen – einem doppelten Wissenstyp, bezogen auf
Wahrnehmung und Vernunft. Glaube an Gott als Erfahrung setzt gerade die Prüfung
durch die Vernunft frei, und zwar im Stile des Idjtihad, einer Offenheit der Auslegung der Urkunde des Glaubens,
des Korans. Diese bestätigt sich jedoch in der Weise des bewusst gelebten
Glaubens und konkreten Handelns. In ihm entfaltet sich das Ich, das als
bezeugendes gewissermaßen das cartesianische „cogito sum“ umdreht (S. 92). Die konstitutiven Gegebenheiten dafür
werden von Lahbabi ontologisch und moralisch im Blick auf den Einzelnen und die
Gesellschaft erläutert und immer wieder auf den Koran bezogen. Das Gewissen ist
dabei „Widerschein der göttlichen Allgegenwart“ (S. 109).
Was im 1. Teil grundlegend angesprochen
wurde, muss nun im 2. Teil überprüft werden, und zwar unter der Voraussetzung
von Gottes absoluter Transzendenz in
Korrelation zur Offenbarung unter menschlichen Bedingungen. Man fühlt sich in
der hier auftretenden Spannung an die unterschiedlichen theologischen Entwürfe
von Paul Tillich einerseits und von Karl Barth andererseits erinnert. Weil Gott
erfahren wird und es keine wissenschaftlichen Beweise für seine Existenz geben
kann, nötigt sich auch die Frage des Atheismus auf. Da wir uns jedoch in einer
Welt befinden, die wir nicht erschaffen haben, kann der Mensch als Person nicht
als „eine geistige Monade“ (S. 120)
angesehen werden, vielmehr ist Balance nötig – im Sinne einer Synthese von
Körper und Geist. Das muss konkret auch auf die
Stellung der Frau übertragen werden, gerade weil die Shahada keine Ungleichheiten zwischen
Mann und Frau kennt. (S. 126), es also auch Prophetinnen gegeben hat.
Eine ähnliche emanzipatorische Koranauslegung führt Lahbabi im Blick auf die
Sklaverei und die Behandlung von
Minderheiten
vor. Hier spürt man besonders Lahbabis antikoloniales
Engagement im Blick auf die Menschen der sog. Dritten Welt (vgl. Autobiographie,
oben S. 51). Im Blick auf die Gegenwart könnte die erneute Betonung eines
islamischen Personalismus aus der Sackgasse herausführen, in die sich die
islamische Theologie durch das Versinken in Formeln und den Kult des
Vergangenen selbst manövriert hat – ganz im Gegensatz zu den mystischen
Strömungen des Sufismus. Hier geht es dann auch um die Auseinandersetzung mit der
„zirkularen Vision von Geschichte“ (S. 135) in der Art von Spengler, Toynbee,
Sorokin und Nietzsche. Die
Reformation
des Islam, die Salafiyya, führt zwar
auch „Zurück zu den Quellen“ – ähnlich wie in der abendländischen
Renaissance – aber sie öffnete wieder
„das Tor“ des Idjtihad, und zwar
durch die Begegnung mit dem Abendland und als revolutionäre Kraft. Dass heute
die Salafisten im Westen durchweg als Rückwärtsgewandte gesehen werden, ist ein
Problem, das dem Salafismus in seiner Variationsbreite nicht gerecht wird. Denn
hier gilt auch, dass die
Philosophie als
Schwester der Religion
(Averroës) nötig ist, um sich den verschiedenen
Aspekten der Wahrheit anzunähern. 
Bei allen Erfahrungen von Bösem, Schuld und
Angst aber siegt letztlich die
Hoffnung im
Sinne einer Öffnung für die Zukunft, in der
Gottes- und Menschenliebe eine korrelative Einheit bilden, und
damit indirekt an das Zitat Jesus aus der (hebräischen) Bibel in Lukas 10,27-28
erinnernd.  
Die beiden anderen
Essays über die
den Menschen
motivierende Offenbarung 
(S. 165-191) und einen aus dem Mittelmeer
aufsteigenden
islamischen Humanismus
(S. 192-206) machen deutlich, wie die diskursive Koran-Auslegung und das
personal ausgerichtete Denken Lahbabis eine Menschlichkeit ermöglichten, die
auf Güte (rahma) aufbauen und einen
Humanismus realisieren, der eine „göttliche Garantie hat“ (S. 206).
Es erweist sich als
Vorzug, dass Lahbabi arabisch und
französisch schreibt, ja dass er das Mittelmeer als eine humanistische
Kraftquelle nimmt, zu der der Islam in Begegnung und Auseinandersetzung mit der
philosophischen Welt der Antike, dem Judentum und Christentum einen
wesentlichen Beitrag zu einer Humanität mit Gott geleistet hat. Wie wichtig ist
es darum, diese islamische Stimme im Blick auf die gemeinsame Zukunft der
Menschen gerade in den Debatten zwischen Orient und Okzident zu hören!
Reinhard Kirste
Rz-Lahbabi,
31.03.11 mit update 
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