Postkoloniale Änderungen eurozentristischer Perspektiven in deutschsprachigen Theologien (aktualisiert)

Andreas Nehring / Simon Wiesgickl (Hg.):

Postkoloniale Theologien II.
Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum
Stuttgart: Kohlhammer
2018, 320 S. 
— ISBN 978-3-17-032571-5
— auch als E-Book erhältlich
— Leider kein
Register und
     keine Hinweise zu den Autoren.
  • Zusammenfassende Bilanz 
    am Schluss der Besprechung 
  • English abstract at the end of the review




















Bereits im
Jahre 2011 erschien ein erster Band „Postkolonale Theologien“, den auch Andreas
Nehring mit herausgab. Er ist Religions- und Missionswissenschaftler an  der Universität Erlangen-Nürnberg. Die
Beiträge nahmen die weltweiten Veränderungen in den Blick, die auch eine
theologische Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner Folgen notwendig machen.
Entscheidende Anstöße und Konzepte kamen von TheologInnen aus Lateinamerika,
Afrika und Asien. Sie hatten und haben wesentliche Rückwirkungen auf die
„westliche“ Theologie zur Folge.


Vgl. Bd.1: Bibelhermneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge – https://Postkoloniale Theologien I 

Postkoloniale
Theologien sind im Grunde eine Variante interkultureller Theologien, denn es
geht angesichts weltweiter Vernetzungen um das Gespräch, in dem
Gotteserfahrungen im gesellschaftlichen Kontext nicht unter der Deutungshoheit
der Theologien Europas und Nordamerikas geführt werden dürfen. Damit gehören
auch alle missionstheologische Positionen auf den Prüfstand, weil sie Teil der
westlichen Kolonialgeschichte sind.
„Postkoloniale Theologien knüpfen
entschieden an diese Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen an [sc. seit den
60er Jahren des 20. Jh.s]. Sie können in dieser Sichtweise als ein Echo auf die
Welle der Dekolonialisierung der Welt im ausgegangenen 20. Jahrhundert und als
ein Anklageschrei gegen alle Formen der Neokolonialisierung verstanden werden“
(S. 11). Dies bedeutet zugleich einen Abbau des Eurozentrismus, der sich auch
in westlichen Theologien findet und geht einher mit einer Bestandsaufnahme unterschiedlicher
Perspektiven in postkolonialen Theologien im deutschsprachigen Raum. Die
Autoren beziehen sich dazu auf verschiedene interkulturelle Ansätze – gerade
aus der Theologie der Befreiung und der feministischen Theologie mit bewusster
Orientierung an die theologischen Entwicklungen in Asien, Afrika und
Lateinamerika.
Die Herausgeber, Andreas Nehring und
sein Assistent Simon Wiesgickl
(derzeit Vikar in einer Nürnberger Kirchengemeinde) haben in diesem Band zusammen
mit den AutorInnen dazu fünf Orientierungspunkte gesetzt:
  1. Systematische
    Verortungen
    im Horizont von Emanzipations- und Befreiungsbewegungen
  2. Interkulturelle
    und religionstheologische Perspektiven:
    Zuordnungen von Christentum und Kultur in der Weltgesellschaft
  3. Exegetische
    Ansätze:
    Postkoloniale Klärungen historischer und gesellschaftlich bedingter Zugänge zur Bibel.
  4. Kirchengeschichtliche
    Zugangsweisen:
    Änderung bisheriger Muster
     von Mission und kirchengeschichtlicher
    Sichtweisen.
  5. Praktische-Theologische
    Anknüpfungspunkte
    angesichts von Globalisierung und Migration – Herausforderungen
    für Kirche, Religionspädagogik und Politik.

In den Verortungen von Teil 1
geht es um theologische Kritik an
Herrschaftsstrukturen
, die bereits im Neuen Testament und in der alten
Kirche angesprochen werden. Eine Theologie, die sich in dieser Weise erinnert,
interpretiert die Auferstehung vergegenwärtigend (Judith Gruber, Kath. Universität, Leuven). Postkoloniale Kritik
wehrt sich gegen die Dominanz westlicher Theologien und fordert eine Teilhabe
aller ein (Michael Nausner, Uppsala).
Das neue Sein in Christus ermöglicht eine “nicht-konkurrierende Ökonomie der
Gnade“ und eine interkulturelle Öffnung des Abendmahls als umfassende und an
den Rändern bewusst offene christliche Gemeinschaft (S. 51f). Neben veränderten
christologischen und sozialethischen Sichtweisen kommt auch die Eschatologie auf
den Prüfstand, weil sie koloniale und imperiale Gewalt mit der „Entdeckung“
Amerikas zementierte (Florian Tatschner,
Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Erlangen). So muss
christliche Zeitlichkeit neu durchdacht werden, und zwar im Sinne einer
ausgeführten “Konter-Apokalyptik“, die die Exklusions- und
Inklusionsmechanismen abbaut (S. 70-72). Eine besondere Frage ist die
Möglichkeit einer postkolonialen Theologie nach der Shoah in der Aufarbeitung
der Täter-Opfer-Problematik (Sabine Jarosch,
Universität Rostock). Ein zunehmendes Problem stellt die erneute
Kolonialisierung im öffentlichen Raum dar, wie der Umgang mit den politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Krisen zeigt. Die Gewalt zeigt sich rassistisch,
geschlechtsspezifisch, ökonomisch, gesellschaftlich und religiös ausgrenzend.
Man denke nur an die weit reichende Auseinandersetzung um die „Option für die
Armen“.
Im Teil 2 – den interkulturellen
und religionstheologischen Schwerpunktthemen
– bietet zuerst Ulrike Auga (Humboldt-Universität
Berlin) Dekolonialisierungsmodelle und praktische Beispiele im Horizont von
Dietrich Bonhoeffers ökumenischer Widerstandstheologie und dem Aufbau
solidarischer Lebensformen, wie sie besonders die aus Indien stammende
Literaturwissenschaftlerin Gayatri
Chakravorti Spivak
(Columbia-University, New York) erörtert. Die
religionstheologische Zuspitzung leistet Sigrid
Rettenbacher
(Universität Innsbruck), indem sie verschiedene postkoloniale
Theorien im deutschsprachigen Kontext verortet und die Verwobenheit religiöser
Traditionen in kolonialen Strukturen heraushebt. Daraus leitet sie die
Notwendigkeit einer sich weitenden Religionentheologie ab, die sich gleichermaßen
systematisch und praktisch interreligiös von kolonialen Verengungen befreit.
Denn auch die Theologien sind immer noch in dominierende Identitäts- und
Machtstrukturen eingebunden. Auch Migration und Flucht müssen wesentliche theologische
Themen bleiben. Die Bibel beinhaltet bekanntermaßen wesentliche Narrativen zu
Flucht und Vertreibung.
Andreas Nehring (Universität
Erlangen) zeigt von daher, wie das Menschsein in der Moderne intensiv
frag-würdig wird. Menschliches Leben ist als spirituelle Pilgerschaft auch von
Erfahrungen der Verletzung und der Missachtung der Humanität geprägt. Die
„Erste“ Welt kann und darf sich nicht mehr gegen die „Dritte“ Welt
positionieren, sondern angesichts der zunehmenden Pluralisierung der
Gesellschaft durch die Migrationsbewegungen wird Humanität zur entscheidenden
Herausforderung.
Klaus Hock (Universität Rostock)
lenkt den Blick auf „afrikanische Divinationssysteme“, d.h., wie „das Heilige“
zwischen Wahrsagen und Weissagen gedeutet werden kann und von daher die
Realität bestimmt. Das ist natürlich ein „diffuses Feld“ (S. 157) – umso mehr
als die Erkenntnisweisen/Epistemologien vom westlichen Wissenschaftsverständnis
erheblich abweichen. Vielleicht bildet die Kosmologie hier eine Brücke.
Interkulturelle Theologie muss sich also bewusst auf die „Durchlässigkeit“ dieser und jener Welt einlassen.
Der Teil 3 stellt mit seinen zwei Beiträgen zum einen die lang
andauernde Eingebundenheit der alttestamentlichen
Wissenschaft an koloniale Phantasmen
heraus, zumal sie die hebräische Bibel
in eine „gemäße“ Ordnung zu bringen suchte. Das gilt z.T. auch für Herder und
J.K.Chr. Nachtigal (Simon Wiesgickl).
Zum anderen führt Lukas Bormann
(Universität Marburg) aus, dass sich im Sinne der „epistemischen Regeln des
Westens“ (S. 194) die Wirklichkeit durchaus als richtig und wahr analysieren
lässt. Die neutestamentliche Forschung hatte dies ebenfalls verinnerlicht. Wie
sieht demgegenüber postkoloniale Exegese aus? Der Autor sieht allerdings in der
postkolonialen Exegese das Problem, „dass sie keinen Raum für eine
wissenschaftliche Beschäftigung zulässt oder definieren kann, die
ergebnisoffen, eigensinnig und nach einer methodischen disziplinären Logik
arbeitet“. Es ist unabdingbar, dass sich in einem herrschaftsfreien Diskurs das
bessere Argument durchsetzt (S. 203f).
Ein besonderes heikles theologisches
Feld sind kirchengeschichtliche Zugänge,
wie dies im Teil 4 deutlich wird. In
der Bestandsaufnahme referiert Ciprian Burlacioiu (Universität München)
wichtige Autoren asiatischer und afrikanischer und lateinamerikanischer sowie
nordamerikanischer Missionsgeschichte. Das Christentum in seinem Werden zur
Weltreligion und der damit verbundenen Pluralität braucht als „Referenzzentrum“
die Bibel, von dem her transnationale und transkontinentale Aspekte
aufgearbeitet werden können und müssen (S. 224f). Ein besonderes Augenmerk verdient
von daher die Orthodoxie. Irena Zelter Pavlović (Universität
Erlangen-Nürnberg) verweist auf eine religiös-politisch verquickte Gemengelage
in Ost- und Südosteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und zwar im
Horizont von „Balkanismus“, Byzantinismus und Orientalismus. Chandra Talpade Mohanty, indische
Feministin, wehrt sich ausführlich gegen den „epistemologischen Ethnozentrismus“
(S. 238). Es stört sie, dass sich die wissenschaftliche Arbeit primär auf den
Westen bezieht. Damit (sozialwissenschaftliche) Forschung vorankommen kann,
müssen die erworbenen Präkonzepte bzw. das Vorwissen kritisch überprüft,
„dekolonialisiert“, werden, um europäische Monopolisierung von Wahrheiten zu
verhindern. Postkoloniale Theologie im deutschen Kulturraum muss sich auf die
schon immer währende „Kulturen-Durchmischung“ konsequent einstellen.
Dominanz-Soteriologien – wie die vom „Christus victor“ – haben sich in der
Theologie- und Kirchengeschichte teilweise verheerend ausgewirkt. Nicht umsonst
heißt der Beitrag von Marion Grau
(Norwegian School of Theology, Oslo): Bonifatius,
Christus und die Axt am Baum
. Die Autorin zeigt an heiligen Eichen, dem
Kreuz Christi und an der Weltenesche Yggdrasil sowie am Heliand die sinnvoll-notwendige
Inkulturation christlichen Erlösungsverständnisses.
Der Teil 5 widmet sich im Sinne praktischer
Konsequenzen den Anknüpfungspunkten
in der Religionspädagogik
, speziell
dem ökumenischen Lernen, dem Gottesdienst und der Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit.
Henrik Simojoki (Universität Bamberg)
erinnert an die christliche Bildungsverantwortung
weltweit, auf die sich die westlichen Kirchen z.T. recht unausgewogen
einstellten (so auch die EKD). Die kulturelle Globalisierung (McDonaldisierung,
S. 259) einerseits und Huntingtons prognostizierter „clash of civilizations“ beschleunigt
Kulturentwicklungen, und zwar in der Mischform bisher getrennter Systeme („hybride
Melangen“, S. 263). Ökumenisches Lernen muss sich darum aus Blickverengungen
wie „Was Christen heute glauben“ lösen. Stefan
Scholz
(Universität Erlangen-Nürnberg) setzt diesen Beitrag gewissermaßen
fort, indem er angesichts der Reste postkolonialen Denkens in der
Religionspädagogik folgert, dass sich die Lernintentionen hegemoniekritisch und
multiperspektivisch ändern müssen. Dazu legt er auch einige
Unterrichtsbeispiele vor.
Ähnliches gilt auch
für eine postkoloniale Liturgiewissenschaft.
Gerade im Blick auf die Wertschätzung indigener Kulturen ist nach Bertram J. Schirr (Universität
Göttingen) eine dortige Durchmischung bisher dominierender europäischer
Liturgien dringend notwendig. Und schließlich sieht Claudia Jahnel (Universität Bochum) angesichts des „religious turn“
in der Entwicklungspolitik, dass
hier mit dem unscharfen Begriff der Religion dem „Süden“ diese verstärkt
zugebilligt wird, während aufgeklärte und säkularisierte Prozesse im „Westen“
doch wieder gesellschaftliche Abstufungen gegenüber den Welten des Südens
vornehmen. Vordringlich in der Debatte muss jedoch die Beseitigung des
Weltelends sein!
Zusammenfassende Bilanz
Postkoloniale
Theologien untersuchen kritisch interkulturelle Zusammenhänge auf hegemoniale
Muster. Hier werden nicht nur kulturelle Differenzen wahrgenommen, sondern es
wird ein generelles Umdenken und eine neue Sichtweise gefordert. Die Theologien
des „Westens“ haben nämlich eurozentrische Perspektiven gegen den „Süden“ verinnerlicht.
Damit gibt es leider auch einen theologisch legitimierten Kolonialismus. Indigene,
feministische und interkulturelle Theologien der Befreiung in Lateinamerika,
Afrika und Asien spielen darum eine zunehmende Rolle. Die Beseitigung theologischer
Absolutheitsansprüche nötigt zu einer Dekolonialisierung der christlichen
Exegese der Hebräischen Bibel („Altes Testament“) und des Neuen Testaments und zur
kritischen Sichtung der Kirchen- und Missionsgeschichte. Ferner müssen die
Religionspädagogik, die Liturgie und die Entwicklungszusammenarbeit deutlich auf
ein partnerschaftliches ökumenisches Lernen ausgerichtet werden.


Herausgebern und AutorInnen ist zu danken, dass sie von ihrer jeweiligen Fachwissenschaft
her die postkoloniale Herausforderung ernst genommen haben und nicht nur
kritisch reflektieren, sondern Transformationen im Sinne postkolonialen
theologischen Umdenkens klar konturieren.
Abstract: Postcolonial changes of Eurocentric perspectives 
in
German-speaking theologies



Postcolonial theologies examine critically intercultural connections on hegemonial
patterns. Not only cultural differences are seen, but a general rethinking and
a new perspective is demanded. The theologies of the „West“ have
internalized Eurocentric perspectives over the „South“.
Unfortunately, there is also a theologically legitimized colonialism.
Indigenous, feminist and intercultural theologies of liberation in Latin
America, Africa and Asia play therefore an
increasing role. The removal of theological absolute claims demands a
decolonization of Christian exegesis of the Hebrew Bible (“Old Testament”) and
the New Testament and a critical examination of the church history and mission.
Furthermore, religious education, liturgy and the cooperation of development needs
to be clearly changed towards an ecumenical learning, based on partnership.

Thanks to the editors and authors for having taken the postcolonial
challenge seriously and this from their specific discipline and that they have
not only reflected it critically, but also have clearly outlined
transformations in the sense of a postcolonial theological rethinking.
Translation
of the abstract: Prof. Dr. Dr.(h.c.)
Manfred
Kwiran, Wülperode
Reinhard Kirste

Ergänzungen:

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