Abdoldjavad Falaturi: Die Umdeutung
der griechischen Philosophie
durch
das islamische Denken.
Königshausen & Neumann 2018, 203 S.
—
ISBN 978-3-8260-5974-2 —
Buch des Monats Mai 2018 der InterReligiösen Bibliothek (IRB)
English summary at the end of the review !
Falaturi (1926–1996) gehört nicht nur zu den bedeutendsten Islamwissenschaftlern
des 20. Jahrhunderts, sondern auch zu den Brückenbauern zwischen den
Denkkonzepten von Orient und Okzident, von griechischer und islamischer
Philosophie.
1965 zum Ausdruck:
Anhang.
Vorarbeit zu Studien zu einem allgemeinen Kantwörterbuch.
seiner Habilitation „Die Umdeutung der
griechischen Philosophie durch die islamische Denkweise …“ von 1973 hob der Theologe und Philosoph die
unterschiedlichen Denkkonzepte im Kontext der Orient-Okzident-Begegnungen
besonders heraus.
die Aufarbeitung des nicht leicht zu lesenden Manuskripts mit späteren
Einträgen und Ergänzungen wird diese entscheidende Forschungsarbeit nun zum
ersten Mal öffentlich zugänglich.
Bearbeiter schreiben darum im Vorwort:
„Ihm [Falaturi] gelingt es, die griechisch-islamische Denkgeschichte
interkulturell wie interreligiös neu zu durchdenken. In dieser … Schrift führt
er … den Beweis, dass die sogenannte Islamische Philosophie nicht, wie oft
insinuiert, eine Nachahmung der griechischen Philosophie ist noch eine
islamisierte Form griechischen Denkens darstellt“ (S. 11). Im Einzelnen führt
er aus, wie sich die griechischen Inhalte in der Bearbeitung durch islamische
Philosophen verändern und dabei zugleich umgestaltet werden. So entsteht auf
der Basis griechischer Philosophie ein facettenreiches islamisch geprägtes
Denkgebäude von eigenständiger Kraft. Dieses erweist sich zugleich als Brücke
für den Umgang mit den unterschiedlichen östlichen und westlichen
Denkkonzepten.
Arbeit Falaturis hat also das griechische und koranische Zeit- und
Wirklichkeitsverständnis gleichermaßen im Blick, um aus dieser Zusammenschau
erkenntnis-theoretische Konsequenzen zu ziehen.
Methodologie des Verfassers ermöglicht es dabei, kontinuierlich und konsequent die griechischen Denkstrukturen am
Leitfaden von ἀρχή (Anfang/Prinzip, Ursprung), κίνησις (Bewegung), γένεσις
(Entstehung, Schöpfung) und είμαι (Sein) zu durchleuchten. Dadurch können die
jeweiligen unterschiedlichen Zeit- und Wirklichkeitsvorstellungen sowie die ontologischen
Erkenntniszugänge im Blick auf Koran und griechische Philosophie hervorgehoben
werden. Dies führt im weiteren Verlauf der Darstellung jedoch nicht dazu, dass es
keinerlei Verbindungsbrücken zwischen griechischem und islamischem Wirklichkeitsverständnis
gibt.
1. Kapitel benennt Falaturi (noch
thesenhaft) zwei wichtige Erkenntnisse, die die weiteren zwischen griechischer Philosophie und
koranischer Ansicht steuern. Es müssen erstens die arabischen Übersetzungen mit
griechischen Originalen verglichen
und die mittelalterliche Philosophie-Rezeption erst einmal ausgeblendet werden.
Es kann nämlich nicht von Übereinstimmungen ausgegangen werden, weil in
Wahrheit eine Abweichung vorliegt (S. 28). Das zeigt sich sehr deutlich an
Texten von Avicenna, al-Ghazali, al-Farabi und Averroes. Zweitens kommt für „die Darstellung der rein islamischen Denkweise
… nur der Koran als höchster Maßstab infrage. Es versteht sich aber von selbst,
dass dieser nicht als kanonische Quellen einer religiösen Systematik, sondern
als ein geistig überaus wichtiges Buch in Betracht kommt, dessen Vorstellungs-
und Denkweise … den islamischen Geist am reinsten und am entschiedensten
bestimmt hat“ (S. 31).
Falaturi jedoch die koranische Zeitauffassung näher erläutert, betont er: Der
Kontrast zum koranischen Vorstellungsschema zeigt sich am griechischen Leitbegriff
der ἀρχή. Das führt zu den Ausdifferenzierungen von χρόνος und καιρός.
Aristoteles, Zenon und Plotin werden dabei zu hermeneutischen Schlüsselfiguren.
Also leitet der regulierende Charakter der Zeit alle Erkenntniszugänge, m.a.W.:
die griechischen Philosophenschulen stehen auf dem Boden dieses regulierenden Zeitverständnisses
(S. 59). Diese Basis bzw. Denkstruktur fehlt im Koran.
spannend, weil Falaturi am Leitfaden des arabischen Wortes waqt und seinen
Ableitungen nachweist, wie sich durch
den islamischen Transfer die griechischen Begriffe χρόνος und καιρός verändern. So deutet alles
darauf hin, „dass die koranische Zeit keine physikalische und keine
metaphysische Größe ist … Sie ist also keine regulierende Zeit …. Sie ist …
eine reale kosmische Erscheinung, die … von Gott hervorgebracht wurde und
insofern ihre eigene Entität besetzt“ (S. 68f). Der Koran hat darum zwei
Zeiteinheiten: Nacht und Tag und keine Zeitabläufe. Damit fehlt ihm auch die
Ewigkeits- und Zeitlichkeitsvorstellung (S. 79). „Da die Zeit dem Weltall als
ein Teil desselben gehört, so ist Gott folgerichtig vor oder außerhalb der
Zeit“ (S 82). So lassen sich auch Prozesse nicht bis zu ihren Ursprung (ἀρχή) zurückverfolgen, weil die regulierende
Zeit als Basis fehlt. Dadurch entsteht ein
von der griechischen Philosophie abweichendes Wirklichkeitsverständnis. Das
führt Falaturi im 3. Kapitel aus:
Bewegtheit: Die Herkunft der Welt, geschaffen von einem einzigen Urheber –
Gott. Er ist zugleich der Größte, der Gestaltgeber, neben dem es keine anderen
Götter geben kann. Gott kann darum nicht als wirkende Ursache oder als erster
Beweger verstanden werden (S. 96). Falaturi spielt diese Differenzen an einer
Reihe von griechischen Begriffen durch, für die es kein arabisches Äquivalent
gibt. Sein und Nichts beschäftigen den Koran nicht (S. 114), Wirklichkeit hat
nichts mit einem prozesshaften Entstehen zu tun (S. 121) und ist damit das
Gegenstück zur griechischen Wirklichkeitsauffassung. Wie sieht dann aber koranische Philosophie aus?
schreibt im 4. Kapitel zur Wirklichkeitserkenntnis im Koran: „Das Wirklichkeitsbild
des Korans scheint von der Überzeugung getragen zu werden, dass das All samt
allem, was sich darin befindet, eine Summe von einzelnen Dingen ist, die alle
unabhängig voneinander nur von einem … außerweltlichen Urheber oder Täter
abhängen“ (S. 133). Daraus folgt, dass jegliche Metaphysik für den Koran
undenkbar ist. Es muss jedoch eine entsprechende Erkenntnislehre geben. Sie
bezieht sich auf das tiefste Wissen
(arabisch ‘ilm = „aus dem Grunde“, S. 138). Menschliches Wissen
kommt dagegen nur an Einzeldinge heran. „Im Koran fehlt also – im Gegensatz zum
Griechischen – das wissenschaftliche Wissen, die wissenschaftliche Reflexion
und deshalb auch der wissenschaftliche Zweifel … Der Koran kennt damit auch
keine ἀπορία
(S. 167). Denn Zweifel (σκέψις) und Aus-Weglosigkeit (ἀπορία) sind
Grundmuster griechischen Denkens. Dieses sah sich immer wieder bei der Lösung
eines Problems vor Ergebnisse gestellt, deren Gegensätzlichkeiten (Antinomien)
sich nicht auflösen ließen. Aber die Aporie ermöglichte immerhin, nach dem
Anfang bzw. dem steuernden Prinzip (ἀρχή)
zu fragen.
dennoch gibt es Verbindungslinien zum
griechischen Denken, und zwar über die islamische Methodenlehre des Idjtihad, was etwa „Anstrengung“ bzw. „Fleiß“ bedeutet (S. 168). Idjtihad bestimmt die Koranauslegungen ganz wesentlich, auch wenn
es theologische Versuche gab, das „Tor der Auslegung“ zu schließen. Diese Methodologie erlaubt nämlich,
die Vermengungen griechischer und koranischer Fragestellungen aufzudecken und
kann darum den islamischen Wissenschaften gerade in der Gegenwart neue Impulse
geben.
scheint mir genau der Punkt zu liegen, der im Mittelalter dazu führte, dass und
auf welche Weise Averroes, Avicenna, al-Farabi, al-Ghazali, as-Suhrwardi und al-Shirazi
die aristotelische Philosophie in einen anderen Denkhorizont transferiert haben,
auch wenn man diesen Transfer nicht mehr als genuin koranisch bezeichnen kann.
hebt in seinem Nachwort darum die
erheblichen Reibungsflächen islamischer
und griechischer Philosophie hervor. Er konstatiert jedoch nachdenklich,
dass eigentlich nur Avicenna, diese Diskrepanz bemerkt habe (S. 187).
ist es gelungen, die Eigenständigkeit islamischer, auf dem Koran basierender
Philosophie hervorzuheben. Das könnte vermutlich auch zu Revisionen im
Verständnis christlicher Denkkonzepte des Mittelalters führen, wenn man sie an
islamischen Zeitvorstellungen spiegelt. Das gilt übrigens nicht nur für
Averroes und den Averroismus. Darüber hinaus wird zugleich deutlich, dass
griechische und islamische Philosophie wie zwei Pfeiler gleichsam an gegenüber
liegenden Flussufern stehen. Auf diesen Pfeilern lässt sich durchaus die
geistige Brücke zwischen Orient und Okzident verstärken.
So ist es ausgesprochen schade, dass uns Abdoldjavad Falaturi für diesen
wichtigen weiterführenden Diskurs im Sinne christlich-islamischer
Geistesbegegnung nicht mehr zur Verfügung steht …
- Prof.
Dr. Hamid Reza Yousefi (http://www.yousefi-interkulturell.de/) lehrt interkulturelle Philosophie und Geschichte der Philosophie an den Universitäten Koblenz-Landau und Qom
(Iran). - Prof
Dr. Dr. Mahdi Esfahani (http://www.sis-de.com/ueber-uns/vorstand/prof-dr-mahdi-esfahani/) leitet die Stiftung für Islamische Studien (SIS) und nimmt Lehraufträge an der FU
Berlin und in Qom (Iran) wahr. - Dr.
Dr. Parvis Falaturi, Sohn von
Abdoldjavad Falaturi, ist Gemeindepfarrer der ev.-luth. Gemeinde Westerstede im Nordwesten Niedersachsens. Bericht in NWZ online, 25.10.2016: hier
English summary:
In this important contribution Abdoldhavad Falaturi (1926-1996), internationally well-known Islamic scientist, succeeds in rethinking Greek-Islamic intellectual history. By his interpretation of special Greec and Arabic philosophical terms he can demonstrate that the so-called Islamic philosophy is not, as often insinuated, an imitation of Greek philosophy, but an originally Islamized form of Greek thought – founded in the hermeneutics of the Qur’an. This transfer can also be a bridge for dealing with the different concepts of the East and the West, especially in the context of time and reality.
It is a challenge for some possible revisions in considering the coherences of Islamic and Christian philosophy in the Middle Ages.
This does not touch only Averroes and the Averreroism but also other patterns of thought in the frame of re-interpretations of Greek philosophy.
Falaturi’s research is therefore also important for the contemporary encounters
of Christian and Islamic epistemological conceptions.