Albert von Schirnding: Alter Mann, was nun?
Gedankengänge auf späten Wegen
München: C.H. Beck 2023, 176 S.
— ISBN 978-3-406-80840-1 —
Verlagsinformation >>>
Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis >>>
Bis zum Alter von 30 Jahren und im Alter ab 70 Jahren verändert sich die Persönlichkeit der Menschen so stark wie in keiner anderen Lebensphase. Das Älterwerden bringt viele Verluste und Kränkungen mit sich. Aber auf der anderen Seite stehen auch viele Erfahrungsgewinne. Das zunehmende Alter kann auch vor Enttäuschungen schützen, etwa indem man seine Erwartungen an eine aktive Zukunft etwas herunterschraubt. Das Leben verschönern, können auch andere Deutungsmuster über das Älterwerden: denn viele Menschen fühlen sich auch gestärkt und ermutigt, wenn sie ihr Leben trotz Schwierigkeiten gut meistern.
Der Autor, geb. 1935 in Regensburg, hat Altphilologie und Germanistik studiert. Er ist Lyriker, Erzähler, Essayist und Literaturkritiker. Bereits als Student debütierte er 1956 als Lyriker. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitete er drei Jahrzehnte als Lehrer an einem Münchener Gymnasium. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis und dem Kulturpreis der Stadt Regensburg. Er lebt mit seiner Familie in Oberbayern.
Rezension im Deutschlandfunk anlässlich seines 65. Geburtstages (Florian Felix Weyh, 10.04.2000) >>>
Von seinen Altersritualen berichtet er im Vorwort. Daraus sind diese „morgendlichen Gedankengänge“ (S. 9) entstanden, die wir als Rezensenten sehr gut nachemfinden können, besonders wenn er schreibt: „Meine Situation hat aber ein gewisses allgemeines Interesse. Wie verbringt einer, der die Mitte der achtziger jahre überschritten hat, seine Tage, welche Erinnerungen sind ihm wichtig, was bedeuten ihm noch Literatur und Musik, wie verhält er sich zu den „Äußerungen des herrschenden Zeitgeists“ (S.10), nachdem er schon viele Zeiten durchlebt hat. Die Fragen stellen sich unaufhaltsam: Wie lässt sich besonders das Vergehen der Zeit durch ihre Gestaltung überwinden? Was geschieht im Innern, wenn das Leben nach außen immer gleichförmiger wird? Welche lang genährten Gewissheiten bleiben im Alter, und welche geraten plötzlich in Unordnung? Der Autor denkt über Bücher nach, die ihn durch die Jahre begleitet haben, über die Musik seines Lebens, über Menschen und Begegnungen, Momente des Scheiterns und der Rettung.
Denn es ist inbestritten: Das Alter wird, je länger wir alle leben, zu einer eigenen Lebensphase. Wer sich auf sie einlässt, wer die unvermeidlichen Verluste, die sie mit sich bringt, nicht verdrängt, kann vieles gewinnen. Mit einem Mal werden Gedanken an Menschen und Dinge wach, die früher keine Rolle spielten. Mit einem Mal wird unwichtig, was lange unentbehrlich schien. Albert von Schirndings poetisch-nachdenkliches Buch begegnet dem Alter mit unverstelltem Blick und erreicht gerade dadurch eine große Gelassenheit. Aufmerksam durchwandert er diese eigenartige Lebenslandschaft des Alters und findet darin Schatten und Glanz. Wer sich auf die Herausforderungen dieser letzten Phase vor dem Tod einlässt, wer die unvermeidlichen Verluste, die sie mit sich bringt, nicht verdrängt, kann vieles gewinnen. Albert von Schirnding denkt über vielgeliebte Bücher nach, die ihn durch die Jahre begleitet haben, über die Musik seines Lebens, über Menschen und Begegnungen, Momente des Scheiterns und der Rettung. Es sind kürzere und etwas längere Nachsinn-Momente, die durch die aus dem Alltag herausgehobene Erinnerung plötzlich Bedeutung gewinnen, ein Kaleidoskop von Gedanken über Licht und Schatten des Alters im Horizont der Frage: Was zählt im Leben wirklich? Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Mehr als Erinnerung an King Lear:
Die Stille nach dem Sturm (S. 148)
„Die Herbst- und Frühjahrsstürme dauern drei Tage und Nächte und verstoßen dich in die Heide, durch die der wahnsinnige King Lear taumelt. Aber in der dritten Nacht erwaachst du und hörst – die Stille. Es ist vorbei. Die Stille ist für dein Ohr wie ein quellfrischer Trunk für eine ausgedörrte Kehle. Was ist sie jenseits soclher Vergleich? Sie zehrt von keinem Sein, sie ist der Nicht-Lärm, das hörbar gewordene Nichts. Das Nichts ist eine Orgel mit vielen Stimmen. Eine davon ist die Stille.“
Von Schirndungs Ausführungen sind durchzogen von Exkursionen in Biographisches und Geschichtliches und haben von daher sogar sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Wert. Man erinnere sich nur: Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts galten Menschen mit vierzig als Greise. Wie alt man auch sei: in “Alter Mann, was nun?” lädt ein, in welchem Alter man auch sei, beim Lesen durch die eigene Gedankenwelt spazieren, Reisewege der besonderen Art, die bei allen Beeinträchtigungen und Begleiterscheinungen des Alters einen großen, zugleich sehr unterschiedlichen Facettenreichtum im Horizont der gelebten und erlebten Zeit sowie im Blick auf das mögliche Kommende aufleuchten lassen.
Prof. Dr. Eckhard Freyer (Jg. 1949), Bonn — Dr. Reinhard Kirste (Jg. 1942)