Frank-Walter Steinmeier (Hg.):
Wegbereiter der deutschen Demokratie – 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918
München: C.H.Beck 2021, 448 S., Illustrationen, ISBN 978-3-406-77740-0
Verlagsinformation mit Leseprobe
Angesichts aktueller politischen Perspektiven bietet ein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier herausgegebener Bandes über dreißig „Wegbereiter der deutschen Demokratie“ zwischen 1789 und 1918 interessante Gedanken. Frank-Walter Steinmeier (*1956), ist der 12. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Davor war er Leiter der niedersächsischen Staatskanzlei, Chef des Bundeskanzleramtes, Oppositionsführer im Deutschen Bundestag sowie Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. Als Präsident der Bundesrepublik Deutschland hat er es zum Leitthema seiner Präsidentschaft gemacht, unsere Demokratie zu stärken und setzt sich dafür ein, dass die deutsche Demokratiegeschichte sowie deren Orte und Protagonisten fester Teil unserer Gedenkkultur und der republikanischen Tradition werden.
Das Buch erscheint zur richtigen Zeit, denn „Die Demokratie ist auf dem Rückzug, wir erleben gerade einen „democratic rollback“, die Autokraten kommen zurück:
- Larry Diamond, The Democratic Rollback. The Resurgence of the Predatory State, in: Foreign Affairs 2/2008, S. 36–48
- ders. mit Marc F. Plattner / Christopher Walker (Hg.): Authoritarianism Goes Global.
The Challenge to Democracy, Baltimore 2016. - Vgl. dazu: Beitrag bei ww.bpb.de
und bei www.tagesschau.de - Besonders aufschlussreich der „Demokratie-Index“
Auch der Epidemiologe John Ionannidis, Stanford-Professor und einer der meistzitierten Wissenschaftler der Welt, zeigt aktuell eine kritische Bilanz der weltweiten Corona-Maßnahmen: mit Beschädigung der Demokratien und Gesundheitssysteme, den Verlust demokratischer Grundfreiheiten, und die Veränderung gesellschaftlicher Werte, Schaden durch die Lockdown-Maßnahmen und den Irrglauben an objektive Wahrheit sowie die Zensuren durch die Medien. Details
„Electoral democracy“ ist ein Begriff, den vor allem Freedom House verwendet, und der sich als Terminus in der politischen Regimeforschung rasch verbreitet hat. Substanziell bezeichnet er einen minimalistischen Demokratietyp, in dem zumindest die Wahlen grundsätzlichen Allgemein- und Freiheitskriterien genügen. Denn die Demokratie ist heute unter Druck. Im Inneren verliert sie Mitstreiter und wird von Populisten delegitimiert, schlecht geredet und beschädigt. Global müssen sich Demokratien in Konkurrenz zu autoritären Systemen bewähren. Die Krisenfestigkeit unserer westlichen Ordnung wird sich im Vergleich mit China zeigen (Worldwide Governance Indicators)
Die aktuelle Antwort dazu lautet in Deutschland: Alle fünf Jahre kommt mit der Bundesversammlung die größte parlamentarische Versammlung der Bundesrepublik zusammen, um das Staatsoberhaupt zu wählen. Alle Bundestagsabgeordneten sind dabei, dazu eine ebenso große Zahl von Vertretern aus den Ländern, nicht nur Politiker, sondern auch mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Kultur oder Sport. Doch in diesem Jahr drohte das Fest der Demokratie der insgesamt 1472 Delegierten zum umständlichen Verwaltungsakt zu werden: Corona lähmte die Bundesversammlung am 13. Februar – dem Höhepunkt der Omikron-Welle. Alle Mitglieder der Bundesversammlung und alle weiteren Personen, die an jenem Tag im Paul-Löbe-Haus dabei waren, mussten sich jedoch vor dem Zugang auf eine Corona-Infektion testen lassen. Nach Angaben eines Sprechers wurde eigens zu diesem Zweck auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude am Wochenende ein Testzentrum mit 14 Teststrecken aufgebaut. Kapazität: bis zu 650 Tests pro Stunde. Ab Samstagnachmittag konnten sich die Delegierten dort für die Versammlung am Sonntag testen lassen. JournalistInnen waren nicht zugelassen, nur 40 Personen für TV- und Fotoaufnahmen durften neben den Delegierten ins Gebäude. Steinmeier ist mit großer Mehrheit von der Bundesversammlung bestätigt worden. Er erhielt mit 1045 von insgesamt 1425 gültigen abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Danach warnte er in seiner Rede vor einem bewaffneten Konflikt in Europa. »Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa«.
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Auftakt der Bundesversammlung und Präsidentenwahl war ein ökumenischer Gottesdienst in der Berliner Sankt Marienkirche. Denn dieses Amtsethos geht moralisch weit über die reine Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften hinaus. Ein neu gewählter Bundespräsident leistet nämlich bei Amtsantritt folgenden Eid: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. Mehr dazu
Im Buch werden nun Demokraten gewürdigt, die sich in „vordemokratischen“ Zeiten Verdienste um Partizipation und Rechtsstaatlichkeit erworben haben. 30 ausgewiesene AutorInnen als ExpertIinnen für ihr jeweiliges biographisches Sujet haben an dem Sammelband mitgewirkt. Die Texte zeigen, dass diese dreißig meist vergessenen mutigen Frauen und Männer als „Wegbereiter der deutschen Demokratie“ heute besonders erinnerungswürdig sind. Sie sind für Menschen- und Bürgerrechte eingetreten, als deren Gewährung nicht selbstverständlich war.
„Dieses Buch porträtiert Frauen und Männer, die für die Freiheit, für Menschen- und Bürgerrechte in Deutschland gekämpft haben. Zu ihrer Zeit oft unterdrückt, waren sie doch zukunftsweisend und schufen das politische Fundament unserer Republik. Es sind bewegende Biographien – erzählt von bekannten Autorinnen und Autoren –, die zusammen ein lebendiges Panorama der Demokratiegeschichte in Deutschland von der Französischen Revolution bis zur Gründung der Weimarer Republik ergeben.
Das «Nie wieder» ist nach Vernichtungskrieg und Schoah zu Recht der Kern der deutschen Erinnerungskultur. Aber die Bundesrepublik erklärt sich nicht allein ex negativo. Wer verstehen will, wie Deutschland nach dem Zivilisationsbruch von 1933 bis 1945 zur Demokratie zurückgefunden hat, muss auch seine Demokratiegeschichte kennen. Ihr fehlt bis heute der Platz, der ihr im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und im Traditionsverständnis der Republik gebührt. Dieses Buch macht auf spannende Weise deutlich, wie reich und vielfältig, auch widersprüchlich unsere eigene demokratische Vergangenheit ist.
Mit Beiträgen von: Sabine Appel, Hans-Peter Becht, Wilhelm Bleek, Christopher Clark, Michael Dreyer, Sabine Freitag, Ute Gerhard, Jürgen Goldstein, Ewald Grothe, Rüdiger Hachtmann, Kirsten Heinsohn, Irina Hundt, Christian Jansen, Alexander Košenina, Norbert Lammert, Dieter Langewiesche, Herfried Münkler, Paul Nolte, Heribert Prantl, Hedwig Richter, Julius H. Schoeps, Susanne Schötz, Werner Schulz, Jörg Schweigard, Barbara Sichtermann, Frank-Walter Steinmeier, Barbara Stollberg-Rilinger, Dietmar Süß, Uwe Timm, Volker Ullrich und Kerstin Wolff“ (aus der Verlagsankündigung des C.H. Beck-Verlags).
Frank-Walter Steinmeier skizziert vorbildlich die Geschichte auf dem Weg zur Republik: Was wir den Wegbereitern der deutschen Demokratie verdanken und warum sie für unser Land so wichtig bleiben: „Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte – warum sollte das für uns Deutsche nicht gelten?“. Das gilt besonders, um den Staat und die soziale Marktwirtschaft krisenfest zu machen
(vgl. ApuZ 40-42/2016, 30.09.2016)
Ein kleiner Einblick in das Buch zu den beispielhafte Demokraten: der liberale Staatsrechtslehrer Sylvester Jordan (1792–1861) wurde aufgrund seiner politischen Aktivitäten mehrere Jahre auf dem Marburger Schloss inhaftiert. Robert Blum (1807–1848) war ein führender Revolutionär von 1848. Von Köln aus politisch aufgestiegen, wirkte er in Leipzig und überzeugte durch Schriften mit den Idealen der kommenden Gesellschaft. Obwohl gewählter Parlamentarier in der Frankfurter Paulskirche wurde er verhaftet und in Wien sofort zum Tode verurteilt. Carl Schurz (1829–1906) ebenfalls Revolutionär von 1848 emigrierte in die USA, wurde dort Generalmajor im US-Bürgerkrieg, später Minister in Washington. Am Geburtsort im Rheinischen gibt es von ihm eine fast hundert Jahre alte Büste. Steinmeier will bald eine Kopie dieser Büste samt Granitsockel vor das Schloss Bellevue stellen lassen.
Weiteres
August Bebel (1840–1913) gründete 1869 die deutsche Arbeiterpartei, die sich 1875 mit der Partei Lasalles zur Sozialdemokratischen Partei zusammenschloss. Mehrfach im Gefängnis nutzte er die Zeit um sich fortzubilden. Sein Buch „Die Frau im Sozialismus“ begeisterte Frauen und Arbeiter.
«Die deutsche Demokratiegeschichte ist keine gradlinige Erfolgsbilanz», betont Steinmeier. Dieser Blick zurück mache uns bewusst, auf welchen Schultern wir in unserer Demokratie heute stünden, er rufe in Erinnerung, welche Opfer Menschen erbracht hätten, um Freiheit und Demokratie zu erringen. «
Und dieser Blick zurück in einer Zeit neuer Herausforderungen, vor denen unsere Demokratie steht, macht Mut für die Zukunft.
Insgesamt gelingt den AutorInnen in Verbindung mit dem Bundespräsidenten eine vorbildliche Schrift. Generell wird sprachlich präzise und emotional zurückhaltend geschrieben. So bilden diese Erkenntnisse eine zu empfehlende und lesenswerte Basis, um Wege aus der aktuellen «Demokratiekrise» zu finden.
Ein Blick auf weitere relevante Schlüsselpersonen könnte die Debatte bereichern: Das gilt gerade für Marx und Engels angesichts der Wirkmächtigkeit des Kapitalismus und im Blick auf diw weiterwirkende Bdeutung durch das Godesberger Programm vom 13. August 1959.
Gerade wegen eines so wichtigen Buchprojekts wäre eine Ergänzung mit weiteren politisch bedeutenden Persönlichkeiten zu empfehlen. Und außerdem: die Demokratie in Deutschland entscheidet sich derzeit an den Grenzen, besonders im Hinblick auf die Ukraine und zukünftig im globalen Kontext
Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn
Inhaltsverzeichnis
Frank-Walter Steinmeier- Geschichte für die Republik:
Was wir den Wegbereitern der deutschen Demokratie verdanken
und warum sie für unser Land so wichtig bleiben 11
Barbara Stollberg-Rilinger – Viele Wege zur Demokratie:
Aus dem Ständestaat in die Bürgergesellschaft 25
I. Mainzer Republik und frühe Demokraten
Jürgen Goldstein- Georg Forster (1754–1794):
Weltumsegler und Kopf der Mainzer Republik 39
Sabine Appel- Caroline Schlegel-Schelling (1763–1809): Als Demokratin im Kerker 53
Alexander Košenina: Adolph Freiherr Knigge (1752–1796):
Ein Menschenkenner fordert Menschenrechte 67
Jörg Schweigard: Friedrich Lehne (1771–1836):Diener der Freiheit unter dreierlei Herren 77
II. Hambacher Fest und Vormärz
Heribert Prantl: Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789–1845):
Das Fest, das Deutschland hoffen ließ 91
Ewald Grothe: Sylvester Jordan (1792–1861):Die modernste Verfassung ihrer Zeit 105
Hans-Peter Becht: Adam von Itzstein (1775–1855):Metternichs stiller Gegenspieler 119
Barbara Sichtermann: Louise Aston (1814–1871):Sie war so frei 131
Herfried Münkler: Georg Herwegh (1817–1875):Ein Republikaner in Wort und Tat 143
Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860):
Von den Göttinger Sieben zur Paulskirche 157
III. Die Revolution 1848 und das Parlament in der Paulskirche
[Empfehlenswert in diesem Kontext: Alfred Georg Frei: Kurt Hochstuhl, Wegbereiter der Demokratie.
Die badische Revolution von 1848/49. Der Traum von der Freiheit. Heiderlberg: Springer 1997]
Christopher Clark: Robert Blum (1807–1848):
Mann des Volkes, Märtyrer der Revolution 173
Sabine Freitag: Friedrich Hecker (1811–1881):Der Traum von der deutschen Republik 187
Irina Hundt: Mathilde Franziska Anneke (1817–1884):
Eine radikale Demokratin auf zwei Kontinenten 199
Rüdiger Hachtmann: Johann Jacoby (1805–1877): Bürgermut vorm Königsthron 213
Julius H. Schoeps: Gabriel Riesser (1806–1863):
Gleiche Rechte für die Juden: Eine Rede macht Geschichte 225
Christian Jansen: Jakob Venedey (1805–1871)
und Henriette Obermüller-Venedey (1817–1893):
Im Kampf für einen demokratischen Nationalstaat 237
Susanne Schötz: Louise Otto-Peters (1819–1895):
«Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen» 251
Uwe Timm: Carl Schurz (1829–1906):
Ein deutscher Revolutionär als amerikanischer Staatsmann 265
IV. Reichsgründung und Kaiserreich
Dieter Langewiesche: Ludwig Bamberger (1823–1899):
Der deutsche Nationalstaat – Lebenstraum und Enttäuschung 279
Norbert Lammert: Ludwig Windthorst (1812–1891):
Katholischer Streiter gegen den autoritären Staat
und «schärfster politischer Kopf» im Reichstag 293
Hedwig Richter; Hedwig Dohm (1831–1919):
«Die Menschenrechte haben kein Geschlecht» 305
Paul Nolte: Eugen Richter (1838–1906):Alle Macht dem Parlament 317
Kirsten Heinsohn: Minna Cauer (1841–1922):
Empfindsame Bürgerin, entschlossene Frauenrechtlerin 329
Volker Ullrich: August Bebel (1840–1913):
Idol und Paria, Praktiker und Visionär 339
Kerstin Wolff: Emma Ihrer (1857–1911): Frau der Arbeit, aufgewacht! 351
Dietmar Süß: Carl Legien (1861–1920): Wirtschaft braucht Demokratie 363
Ute Gerhard: Anita Augspurg (1857–1943) und Lida Gustava Heymann (1868–1943):
Für das Recht der Frauen, Rechte zu haben 375
Michael Dreyer: Hugo Preuß (1860–1925):
Aufbruch in die neue Zeit: Die Weimarer Verfassung 391
Werner Schulz: «Wir sind das Volk» oder: Was 1989 mit 1848 verbindet
Ein Nachwort 403