Christoph Elsas: Unterstützung der Allgemeinen Menschenrechte durch Psalm 8 und Mystik

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Erweiterter Gesprächsbeitrag von Prof. Dr. Christoph Elsas zur Geburtstagsfeier am 20. Juni 2022 für Prof. Dr. Erhard Gerstenberger und seiner Ausgestaltung zum Beitrag beim Workshop Human Rights in Ancient Near East, Israel and Hellas under Special Consideration of the Septuagint des ISBLInternational Meeting Salzburg 20.7.2022.

Dieser Beitrag soll  erscheinen in: 

 Studies on the Theology of Septuagint Volume IV, WUNT

Für
meinen alttestamentlichen Kollegen Erhard Gerstenberger, dem ich zum
90. Geburtstag diesen Beitrag über religionsgeschichtliche Kontexte
zu Psalm 8 und Mystik hinsichtlich Menschenrechten widme, geht
Israels Monotheismus auf Minderheits-Erfahrung zurück.
1
Das verbindet ihn mit den neuzeitlichen Begründungen universaler
Menschenrechte und auch der Mystik, die ich als Vermittlung zwischen
ihnen und anderen religiös-kulturellen Traditionen thematisiere:

Die
aus Europa als Minderheiten nach Nordamerika Ausgewanderten
proklamierten in der Unabhängigkeitserklärung der USA 1776: „dass
alle Menschen gleich geschaffen sind und dass sie von ihrem Schöpfer
mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“ (that
all men are created equal, that they are endowed by their Creator
with certain unalienable Rights). Das stand in den Traditionen von
Christentum und europäischer Aufklärung. Schon das Vorbild
freiheitlicher Staatsform in der Demokratie Athens erkannte die
gleichen Rechte allerdings nur männlichen Bürgern zu. Jetzt 1776
waren die vor den Euroamerikanern im Land ansässigen und die für
sie versklavt ins Land gebrachten Menschen nicht mitgemeint. Neben
der Theonomie dieser Erklärung der Menschenrechte steht mit der
säkularen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in der
Französischen Revolution ihr Verständnis als der Ausdruck des
Allgemeinwillens im Dienst des allgemeinen Nutzens. Im Vorjahr hatte
Immanuel Kant im Beschluss seiner „Kritik der Praktischen Vernunft“
von der dem Menschen eigenen „Bewunderung und Ehrfurcht“
gesprochen, die „der bestirnte Himmel über mir und das moralische
Gesetz in mir“ erwecken.

Das
klingt an Psalm 8 an und ermöglicht zugleich eine Vermittlung mit
den Quellen unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Nur ist leider
selten menschenfreundliche Verwirklichung der hohen Ideale von
Menschenrechten zu bewundern, und dass sie durch Monotheismus oder
Mystik unterstützt werden, nicht augenfällig – was haben Menschen
nicht schon zu leiden gehabt, wenn andere das Verständnis von
Monotheismus oder Mystik für sich vereinnahmten? So begegnet auch
Psalm 8 schon seit über zweitausend Jahren ironisch gewendet in der
Frage des biblischen Hiob an seinen Gott: „Was ist der Mensch, dass
du ihn groß achtest und bekümmerst dich um ihn? Du suchst ihn
täglich heim und versuchst ihn alle Stunden.“ Und andererseits
steht am Schluss doch die Gottesgewissheit: „Ijob entgegnete IHM,
er sprach: ‚Ich habe erkannt, dass du alles vermagst … Höre doch
und ich selber will reden, ich will dich fragen und du lass es mich
kennen! Aufs Hörensagen des Ohrs habe ich dich gehört, jetzt aber
hat dich mein Auge gesehn.“ (Hiob 7,17f und 42,1-5 in der
Übersetzung von Martin Buber) Bleibt es nicht dabei, fragt Erhard
Gerstenberger nach einem reichen Menschenleben, dass die
beschreibenden Verbalisierungen der Gotteserfahrung sämtlich von
kontextuellen Bedingungen abhängig und weitgehend Kreation unserer
begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten im Reflex auf eine
„schlechthinnige Abhängigkeit“ sind? Inwiefern kann dann ein
„Von guten Mächten wunderbar geborgen“ angesichts all der Mächte
der Unmenschlichkeit das reale Praktizieren der Allgemeinen
Menschenrechte unterstützen?

In
einem neu erschienen Diskussionsband zur Menschenwürde hat
Franz-Josef Bormann den Verfechtern einer kontingenten Interpretation
der Menschenwürde die Anhänger einer absoluten Deutung der
Menschenwürde in der Nachfolge Kants gegenübergestellt – die „auf
die in Freiheit, Vernunftbegabung und Handlungsfähigkeit wurzelnde
Anlage zur sittlichen Subjektivität jedes Menschen verweisen“. Ihr
entspreche „ein universaler, egalitärer, unveräußerlicher,
inkommensurabler und kategorischer Anspruch auf Achtung (sc. der
Selbstzwecklichkeit des Menschseins).“ Es sei dann zu fragen,
„welchen Beitrag eine Erinnerung an die jüdisch-christliche
Schöpfungstheologie dabei leisten kann.“
2
Patristische und scholastische Traditionen sprechen – neben der
verlierbaren Würde sittlicher Tadellosigkeit – von der unaufhebbaren
Würde des Menschen, die aus seiner Gottebenbildlichkeit resultiert,
die mit der Vernunftausstattung verbunden wird. Wenn das den
herausgehobenen Status des Menschen „aus einer praktischen
Perspektive durch eine besondere Verantwortlichkeit bestimmen“
soll, ist „nach den notwendigen Voraussetzungen einer Befähigung
zur tatsächlichen Verantwortungsübernahme des Menschen zu fragen.“
So ist bei der unvergleichlichen Handlungsmacht des Menschen „zu
berücksichtigen, dass die für das verantwortliche Handeln
erforderlichen Einzelkompetenzen dynamische entwicklungsoffene Größen
darstellen und entsprechend „die unverzichtbaren Minimalbedingungen
der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme“ zu schützen sind.
D.h. dass „schon die individuelle Anlage zu ihrem Gebrauch unter
den Schutzbereich der Menschenwürde fällt.“
3

In
Psalm 8 sind – angesichts tiefer Verunsicherung durch den Verlust der
irdischen Macht Israels im Exil – die Erwartungen an die Könige
altorientalischer Großreiche ganz auf den Gott Israels gerichtet.
Die Pyramidentexte Ägyptens rühmen den jungen Gott Horus als den
Rächer seines getöteten königlichen Vaters Osiris, des Urbilds
jedes Pharaos. Der spät- oder nachexilische Psalm 8 handelt von der
Herrlichkeit des Herrschers Israels, der der Herr alles Geschaffenen
ist, aber seine bleibende Macht, die er dem Menschen allgemein
übergibt, gegen alles Feindliche auf hilflose Kleinkinder baut, wie
Vers 3 zuspitzt. Aber der Vers steht nicht isoliert im Psalm, wie die
Forschung öfters annahm. Denn vor allem die Kleinen leben deutlich
aus der Liebe, mit der diese unermessliche Größe an sie denkt und
sich ihrer annimmt. Von diesem Gott Israels wird ein jeder Mensch zum
„Herrschen in den Grenzen der Schöpfung“ gekrönt4:
Was menschlicher Mund – vom Kleinkind an – ausspricht, kommt aus
dem Inneren, wo das Herz das Wichtigste ist, und auch, was sich erst
zu Sprache entfalten wird, hat Teil an der Mächtigkeit des
göttlichen Wortes. Denn Kinder sind nach biblischer Überzeugung
eine Gabe Gottes, erfahren als Teil der Familie ihre Menschenwürde,
werden nach Joel 2,16 auch schon als Säuglinge in die
gottesdienstliche Versammlung einbezogen und treten als Erben der
Verheißung in den Bund Gottes mit seinem Volk ein.5

Solange
sie ihre Bundesverpflichtung noch nicht voll wahrnehmen können,
gelten Kinder als unmündig. In der Jesus-Tradition wurden gerade
Kinder das Beispiel für alle, die als unmündig, beladen oder
stigmatisiert gelten, und werden in ihrem Verhältnis zur
Gottesherrschaft hervorgehoben – sie treten Gott mit leeren,
offenen Händen gegenüber (Mk 9-10). Damit spielen für
Menschenwürde vorzuweisende ausgebildete Fähigkeiten zu Erkenntnis,
Sprache und Verantwortung keine Rolle, sondern das „Geheimnis des
Wesens der Ursprungsmacht“6.
Nach der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte durch die UNO nach
dem Zweiten Weltkrieg ist jetzt seit 1990 auch die von der
UN-Vollversammlung einstimmig angenommene Kinderrechtskonvention
völkerrechtlich in Kraft: Kinder bedürfen wegen ihrer mangelnden
körperlichen und geistigen Reife des besonderen Schutzes – so ist
ihnen der Anspruch auf Fürsorge und Unterstützung zur harmonischen
Entfaltung ihrer Persönlichkeit zuzusichern.

Auch
wenn der normative Kern des Würdebegriffes geltungstheoretisch
unabhängig ist von spezifisch religiösen Vorstellungen, können
Überlegungen zu Psalm 8 das säkulare Recht zusätzlich einsichtig
machen, denn der Psalter Davids gehört zu den Traditionen von
Judentum, Christentum und auch Islam. Nach den Klagen über die
gottlosen Feinde in den Psalmen 1-7 dankt dieser Psalm 8 in seinem
Lob des Schöpfers für das Bollwerk gegen sie und führt das
ausgerechnet auf Kleinkinder zurück: Dass sie allein hilflos sind,
mindert nicht die königliche Stellung und Berufung der ganzen
Menschheit, mit Gott für seine wunderbare Schöpfung zu sorgen.7
Entsprechend übersetzt der Psalmen-Kommentar von Dieter Böhler 2021
Psalm 8,2b.3: „Der du deinen Glanz verleihst über den Himmel, auf
den Schrei von Kindern und Säuglingen hin hast du gegründet eine
Feste, wegen deiner Bedränger, um einhalten zu lassen Feind und
Rächer.“ Dazu weist Böhler in seiner Auslegung darauf hin, dass
„Gottes Name auf der ganzen Erde“ außer in den Versen 2 und 10
von Psalm 8 nur in Exodus 9, 16 ein Thema ist: Dort ist vorher – in
Ex 3,14 – die Selbstkundgabe des Gottes Israels in der
Namensoffenbarung „Ich bin da“ angesprochen, die ihn jetzt mit
Pharao einen Machtkampf führen lässt, wer der wahre Gott sei. Für
diesen Hintergrund kann Böhler auch – mit der Mischna – die
spätalttestamentliche Tradition in der Weisheit Salomos anführen:
Nach Weish 10,21 ist der Sieg über Pharao am Roten Meer auch von
Kindern besungen worden; nach 11,7 wurde die Blutwasser-Plage gegen
Ägypten für den angeordneten Kindermord verhängt; nach 18,5 war
auch der letzte Schlag gegen Ägypten, die Tötung seiner
Erstgeborenen und dann die Vernichtung der Heeresmacht Reaktion auf
das Vorgehen gegen Israels Kinder; und vorher wird 12,5f die
Landnahme als Bestrafung der Kanaanäer für deren Kinderopfer
gedeutet. Ps 8,4-7 überträgt dieses von Israel in Ägypten bei
seinem Gott erlebte „gedenken“ und „sich kümmern“ auf alle
Menschen überhaupt: Denn „der Gott von Ex 1-9, dessen Namen Ps 8
feiert, ist eben auch der Gott von Gen 1 … Sein Name ‚Ich-bin-da‘
will ‚auf der ganzen Erde‘ V 2a.10) mächtig werden.“ Die
wirkmächtig gewordene Deutung von Gottes Abwehrfeste gegen alles
Feindliche in V 3 als Lob aus Kindermund, die Mt 21,15 zum Konflikt
um Jesu Tempelreinigung zitiert, stammt aus der Septuaginta und
dürfte auf die genannte Tradition in Weish 10,21 zurückgehen.8

Wie
kann eine solche Zuspitzung von biblischem Denken globales Eintreten
für den Menschenrechtsgedanken aufgrund der gleichen Würde aller
Menschen unterstützen? Welche Ansätze ermöglichen Konvergenzen mit
anderen Religionskulturen?9
Eine wichtige Rolle wird hier der Mystik seit der Übersetzung der
hebräischen und aramäischen Bibeltexte ins Griechische der
Septuaginta zukommen: Die Reflexion geht hier nicht aus vom
menschlichen Ich, sondern wie in Jesaja 6 und Ezechiel 1 von der
Herrlichkeit der Schau des Thronwagens Gottes bzw. wie in Psalm 8
seines Himmels. Von Israels Erfahrung mit diesem Gott geleitet, der
seine kann der Mensch gegen Unterdrückung auf Gerechtigkeit setzen.
Denn sie wird als die Ordnung des Schöpfers und Herrn der Welt
bekannt, und im Griechentum lehrte sie Plato als die wahre,
intelligible Weltordnung zu verstehen.

Was
die Kinder betrifft, so freute man sich in der hochgeschraubten
Zivilisation des Hellenismus an ihrer unverfälschten Natürlichkeit
und stellte sie vor allem bei Spielen dar, wo sie mit aller
Unzulänglichkeit ihrer Kräfte die Tätigkeiten von Erwachsenen
nachahmten, auch kultische. Darin treten nach philosophischer Ansicht
die Naturanlagen beim Kind in aller Reinheit hervor. Für die Stoa –
die die Gleichheit aller Menschen lehrte – waren das die Integrität
und Schönheit des Körpers und eine gewisse geistige Substanz als
Anlage für späteres Streben nach der Tugend. Und eine besondere
Rolle spielt die Darstellung der göttlichen Liebesmacht Eros als
Kind.10
Mit der Tradition von Platos Symposion wurde dieser Eros eine
Bezeichnung des menschlichen Triebes, den jeder und jede Einzelne als
Anlage in sich hat: als der göttliche Funke in den Menschen, der sie
zur ursprünglichen Natur zurückführt.11

Mit
der Mystik kommen außer Monotheismus auch andere Deutungen der
Abgründigkeit in den Blick, in die menschliches Leben eingetaucht
ist. In der vom Platonismus geprägten Auslegungsgeschichte der Bibel
war Kosmotheismus in hoch reflektierter Form als Monismus präsent.12
Eine Allgemeindefinition für Mystik hat von der etymologischen
Verbindung mit Griechisch myô, myeô, mystêrion auszugehen:
Versenkung in den verborgenen Seins-Grund und Identifikationswissen,
bei dem die Sprache über sich hinaus verweist auf eine nur in
Paradoxen anzudeutende personale Erfahrung letzter Realität.13
Im Westen war es das hellenistische Ägypten, das durch Handel über
Alexandria dem Osten verbunden war, wo man im 1. Jh. dafür forderte,
den Geist zu leeren und das alte Ich loszulassen. So sprach Philos
jüdisch-platonische Interpretation von der Zuwendung des göttlichen
Geistlichtes, vor der das Licht des menschlichen Geistes weicht
(Hereses 265 zur Ekstase in Gen 15,12), und eine
hermetisch-platonische Interpretation von der Erleuchtung des
Menschen, der sich in seinem gesamten Denkvermögen mit der
göttlichen Intelligenz verbindet (Asclepius 29). Erst die
Interpretation gibt der Erfahrung im jeweiligen Kontext mitteilbare
Bedeutung.14 
Grundpositionen platonischen Philosophierens waren und blieben, dass
Grund und Sinn nur vom überweltlichen, unbedingten Guten kommt, dass
die menschliche Vernunft sich wahrhaft orientieren kann nur nach
übersinnlichen Ideen, die dauerndes Sein haben und dass alles
Sinnliche nur eine abbildhafte raum-zeitliche Erscheinung ist.

Platonisches
Philosophieren ist mit der Verheißung verbunden, an das Göttliche
anzunähern und anzugleichen – und dass das, was Gottähnlichkeit
hat, nicht untergehen kann. Bis zu Plotins Neuplatonismus im 3. Jh.
war in platonischer Tradition solche Angleichung an den Gott der
sichtbaren himmlischen Ordnung zu vollziehen: durch möglichst
vollkommene Abstraktion nach der via negationis und hilfsweise der
via eminentiae und analogiae. Plotin lernte darüber hinaus in
Alexandria, Lehren daraufhin zu prüfen, ob sie sich einer
Folgerichtigkeit einfügen lassen, die wie vom Gott des Monotheismus
Israels von einem höchsten Einen bestimmt wird: das oberhalb aller
Aussagen steht und auf überrationalem Weg von einem reinen Sinn in
seiner Evidenz erfahren werden kann. Damit kam es zur neuplatonischen
kosmischen Mystik, weil dieses höchste Eine zwar von allem abgehoben
ist und doch in einem jeden und in einer jeden gegenwärtig ist durch
ein Element, das ihm sehr nahe verwandt ist.15

Die
biblische Tradition gehört grundlegend durch das regelmäßige
meditative Rezitieren der Psalmen mit der Mystik zusammen. Der
Psalter war das Gebetbuch der exilierten jüdischen Gemeinschaft
geworden und die Christen hatten von der Synagoge Schriftlesung und
Gebet übernommen und mit ihrer Eucharistie-Feier verbunden – als
dem Moment, wo die Gegenwart Gottes in Christus kommuniziert wird. Im
4. Jh. organisierte Pachomios die Einrichtung von Klöstern für gut
10.000 Mönche und Nonnen von Ägypten bis Syrien und erwartete von
deren Gemeinschaften, die von Gott mit Jesus Christus und schon im
Psalter Davids geoffenbarten Gebets-Worte auswendig zu lernen: Sie
sollten mit ihnen leben, indem sie den ganzen Tag das Vaterunser und
so viele Psalmen wie möglich sprechend und singend auf den Lippen
hatten – um sich so deren spirituellen Gehalt durch die ruminatio,
„das .Kauen des göttlichen Wortes“, anzueignen. Im syrisch
sprechenden Christentum gab und gibt es für solches beständige
Leben im Austausch zwischen Gott und Mensch durch Gebetsrezitation
den Terminus qeryânâ, der im arabischen qur’ân bei der
Gemeinschaft der Muslime seine Entsprechung fand.16

Der
mit griechischer Sprache und der apophatischen platonischen
Interpretation biblischer Theophanien wie bei Gregor von Nyssa
bestens vertraute Euagrios Pontikos wurde Ende  des 4. Jh. in Alexandria
Führer des gebildeten Mönchtums. Er hielt ausdrücklich zu Beten
und Singen der Psalmen an, das rein war von Bildern, Gedanken,
Konzeptionen.17
Spätestens mit ihm kamen in der mystischen Rezitation von Psalm 8
biblische und griechische Assoziationen zusammen (bei hê
megaloprepeia sou hyperanô tôn ouranôn und dem folgenden ek
stomatos nêpiôn kai thêlanzontôn): Die alles bestimmende Majestät
des einen Gottes oberhalb aller Horizonte steht in engster Relation
gerade zum seiner Zugehörigkeit zur Erdenwelt gemäß lebenden
Menschen, der sich nicht – wie in der Tragödie – in Hybris
überhebt und göttliche Macht anmaßt. Auch für Gebildete wurde
deshalb die beste Absicherung auf Erden, wie für ein Kleinkind das
Leben als Geschenk rein aus Liebe für einen jeden Menschen zu
verstehen und an diesem Machtausüben des Höchsten auch das eigene
zu orientieren.

Im
griechisch-orthodoxen Christentum bezogen die Dionysios Areopagita
zugeschriebenen Schriften um 500 die neuplatonische kosmische Mystik
mit weltweiter Wirkung ein. Im 12. Jh. wurde im Westen die Nonne
Hildegard von Bingen mit ihren visionären Schilderungen des
Menschenanteils am Kosmos und der Schöpfungskraft Gottes als
kosmischer Christus die wichtigste Repräsentantin der Frauenmystik.18
Auf beiden fußte um 1300 der hochgebildete Mönch Meister Eckhart.
Seine Vermittlung zwischen individualistischem mystischem Überschwang
und kirchenhierarchischer Reglementierung implizierte Kritik an
exklusiven Festlegungen hier wie dort – wenn er predigt: „Wer Gott
in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt
Gott, der in der Weise verborgen ist. Wer aber Gott ohne Weise sucht,
der erfasst ihn, wie er in sich selbst ist; und ein solcher Mensch
lebt mit dem Sohn (Gottes), und er ist das Leben selbst“ (3441f mit
Pr. 5b Q) – denn „alle Kreaturen sind ein schlechthinniges Nichts“,
d.h. nichts anderes als bedürftig nach Gott. Eckhart lehrte hierbei
auch das Ideal der Jungfräulichkeit gleichbedeutend mit dem Wort
„Kind“ so verstehen, dass der Mensch ebenso „frei und ledig
ist, wie er war, da er noch nicht war“ (343 mit Pr. 4 und 2 Q).
Entsprechend predigte er von der bei jedem Menschen möglichen
Gottesgeburt in der Seele (344-349). Daraus folgerte er gegen die
Tradition die gleiche Würde unter den doch wechselseitig
zusammengehörenden Menschengruppen wie Herr und Knecht und
argumentierte mit der Schöpfungsgeschichte für die gleiche
Menschenwürde von Mann und Frau: Wo „die Natur von ihrem Werke
ablässt, da hebt Gott zu wirken und zu schaffen an; denn wären
nicht Frauen, so wären auch keine Männer“, und „als Gott den
Menschen schuf, da schuf er die Frau aus des Mannes Seite, auf dass
sie ihm gleich wäre – er schuf sie weder aus dem Haupte noch aus
den Füßen …“ (356f mit Pr. 28 und 6 Q).

Erstaunlich
parallel zu Meister Eckhart entwickelte vor ihm schon Ibn Arabi –
und zwar als islamisch-theologisch und griechisch-philosophisch
hochgebildeter Sufi-Meister von den Koranversen zu Adam und Eva her –
seine Argumente für ihr ursprüngliches und im Kind wieder
anschauliches Einssein und die gleiche Würde von Mann und Frau.
Beiden, dem islamischen und dem christlichen Mystiker, ging es um die
Vertiefung und Verlebendigung ihrer Tradition. Sie sind darin wichtig
für monotheistische, sogar transkulturell auch schon für
neuhinduistisch-monistische und sogar für
neubuddhistisch-atheistische Fundierungen der Menschenrechte:


Aldous
Huxley, der durch mit der kalifornischen Vedanta Society meditierte
und über Drogen-induzierte Mystik publizierte, bekannte 1954, er
habe durch Meskalin-Genuss die von Eckhart
Istigkeit
genannte nackte menschliche Existenz erfahren und kenne damit die
Höhe der Kontemplation. Doch fehle ihm noch die Realisierung von
deren Fülle wie in der
vita
activa

von Martha, welche Eckharts Predigt 28 in der Interpretation von
Lukas 10,38-42 über die
vita
contemplativa

ihrer Schwester Maria stellte: die Realisation der Allgegenwart
Gottes, die in der Welt tätig werden lässt.19
Ramakrishnas Schüler Vivekananda hatte zur Präsentation beim
Weltparlament der Religionen“ auf der Weltausstellung in Chicago
1893 als altindische All-Einheits-Lehre von Selbst, Welt und Gottheit
den bisher den Brahmanen vorbehaltenen Advaita-Vedânta popularisiert
in den Westen gebracht. In dieser Tradition vom Guru als „Lebendes
Wort“, sinnlich wahrnehmbare Form immanenter Transzendenz, wurde
Huxleys Suche mit einem Riesenerfolg von modernen Meistern wie
Chinmayananda und Dayananda aufgenommen: Sie lehrten die
Originalquellen zur
Atman-Brahman-Relation
öffentlich als universale Botschaft für alle unabhängig von Kaste,
Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Nationalität. 1990
charakterisierte eine Publikation der Chinmayananda Mission
entsprechend das Leben in der All-Einheit durch „a profound concern
for the problems of the world and an uncredible unconcern for their
own.“20


Aus
der altchinesischen Tradition ist die daoistische Mystik bekannt. Sie
geht davon aus, dass jeder Mensch im Mutterleib das Maximum der
himmlischen Gabe des Lebens erhält, die dem göttlichen Potential im
Kosmos entspricht. Diese „Früherer Himmel“ genannte Begabung
ließ sich durch Ausbildung entwickeln und in Schutzritualen
einsetzen.21
Auch das sonst als
wu
wei
gelehrte
Nicht Handeln ist ein Tun, das möglichst absichtslos ist wie das der
Natur, ohne auf sich zu reflektieren – ein Gedanke, der im
ostasiatischen Buddhismus aufgenommen worden ist. Hier erschienen ab
1961wichtige Bücher zu Meister Eckhart aus der Sicht von japanischem
Zen- und Amida-Buddhismus. Keiji Nishitani betonte in seinem dafür
grundlegenden Buch, dass das Selbst nichts ist, dass es ohnmächtig
ist und das offene Feld für Erlösung und Liebe von der anderen
Seite sein muss.22
Mystik kann also Brücken über viele Religionen und zur Fundierung
von Menschenrechten aus deren Traditionen schlagen, was zu einem
homogenisierten Angebot globaler Spiritualität führen kann.23
Die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften wahren dann die
Pluralität, wenn sie in ihrer Dogmatik die je eigene Basis für
Mystik und Begründung der Menschenrechte herausarbeiten.

Solche
Mystik-Traditionen können die von Athens Humanismus und Demokratie
angeregten säkularen Begründungen universaler Menschenrechte
unterstützen. Und sie treffen sich darin mit den von Jerusalem
angeregten, die sich wie Psalm 8 an der Menschenwürde und am
Lebensrecht aller im Lob des Schöpfers als dem Bundesgott
orientieren, der seine Herrschaft zusammen mit dem Menschen
aufrichten will24
– nicht zuletzt im Blick auf die Kinder und Enkel25:
Athen wandte sich gegen menschliche Hybris und Tyrannei. Jerusalem
lässt in Ps 8,3 mit seinen vielen Stichwort- und Motivverbindungen
zur Psalmensammlung 3-14 den Gott Israels der unwahrhaftigen Rede
aller Feinde, die sich wie in Psalm 12 unterdrückerisch voller
Hybris Weltherrschaft anmaßen, das wahrhaft Festgegründete
entgegensetzen. Das kann es weltweit werden, was zu seinem Lob
aufruft: Die Zusage des „Ich-bin-da“ auf den Schrei von Kindern
und Säuglingen hin, die grundlegend die Angewiesenheit verkörpern,
die allem Menschsein gemeinsam ist.26

Literatur:

Baier,
Karl: High Mysticism. On the Interplay between the Psychedelic
Movement and Academic Study of Mysticism, in Wilke 2021, 363-396.

Böhler,
Dieter: Psalmen 1-50 (Herders theologischer Kommentar zum Alten
Testament),
Freiburg u.a. 2021.

Bormann,
Franz-Josef: Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde,
in: Pfordten,
Dietmar von der/ Philipp Gisbertz-Astolfi (Hg.), Menschenwürde.
Zur
Frage ihrer Unverfügbarkeit, Tübingen 2022, 127-145.

Brueggemann,
Walter/ William Bellinger, Jr.: Psalms (New Cambridge Bible
commentary),
Cambridge 2014.

Crüsemann,
Frank: Die Macht der kleinen Kinder. Ein Versuch, Psalm 82b.3 zu
verstehen,
in: ders. u.a. (Hg.): Was ist der Mensch? FS Walter Wolff,
München 1992, 48-60.

Dafni,
Evangelia G.: Genesis, Plato und Euripides (Biblisch-theologische
Studien 108),
Neukirchen-Vluyn 2010.

Elsas,
Christoph: Potentiale religiös-kultureller Traditionen zur Achtung
von Menschenrechten,
in: Richard Faber (Hg.): Streit um den
Humanismus, Würzburg 2003, 111-119.

–:
Mystik in der Globalisierung, Berlin 2017.

Gerstenberger,
Erhard S.: Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jahrhundert v.Chr.

(Biblische Enzyklopädie Bd. 8) , Stuttgart 2005.

Görg,
Manfred: Der Mensch als königliches Kind nach Ps 8,3, in: BN 3,1977,
1-13.

Graham,
William A.: Beyond the Written Word:
Oral Aspects of Scripture in the
History of Religion, New York 1987.

Gutierrez,
Miguel: Some Reflections about the Literary Structure and about the
Anthropology of Psalm 8, in:
Grund-Wittenberg, Alexandra/ Annette
Krüger/ Florian Lippke (Hg.): Ich will dir danken unter den Völkern:

Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur.

Festschrift für Bernd Janowski zum 70. Geburtstag, Gütersloh 2013,
36-48.

Herms,
Eilert: Würde des Menschen, in: RGG 8, 2005, 1737-1739.

Herter,
Hans: Kind, in: Kleines Wörterbuch des Hellenismus. Hrsg. v. H. H.
Schmitt/ E. Vogt,
Wiesbaden 1988, 369-375.

Hong,
Jonathan: Der ursprüngliche Septuaginta-Psalter und seine
Rezensionen:
eine Untersuchung anhand der Septuaginta-Psalmen
2;8;33;49 und 103 (BWANT 224), Stuttgart 2019.

Janowski,
Bernd: Konstellative Anthropologie. Zum Begriff der Person im Alten
Testament,
in: ders. (Hg.): Der ganze Mensch: zur Anthropologie der
Antike
und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2012, 109-127.

King,
Richard: From Mysticism to Spirituality: Colonial Legacies
and the
Reformulation of “The Mystic East”, in: Wilke 2021, 453-466.

Kunz-Lübcke,
Andreas: Gotteslob aus Kindermund.
Zu einer Theologie der Kinder in
Psalm 8, in: Berlejung, Angelika/ Heckl, Raik (Hg.),
Mensch und
König. Studien zur Anthropologie des Alten Testaments.
FS Rüdiger
Lux (HBS 53), Freiburg i.Br. u.a. 2008, 85-106.

Neumann-Gorsolke,
Ute: “Mit Ehre und Hoheit hast Du ihn gekrönt“ (Ps 8,6b).

Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde, in: JBTh 15
(2000), 39-65.

–:
Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur
alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1
und verwandten Texten (WMANT 101), Neukirchen-Vluyn 2004.

–:
„Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen …“. Ps 8,3 im Spiegel
der Teilkomposition Ps 3-14, in:
Grund-Wittenberg (s. Gutierrez)
2013, 15-35.

Ramelli,
Ilaria L.E.: Mysticism in Middle and Neoplatonism in Judaism,
‘Paganism’,
and Christianity, in: Wilke 2021,29-53.

Reiter,
Florian C.: Chinese Daoist Mysticism and its Practical Aspects, in:
Wilke 2021, 343-359.

Schellenberg,
Annette: Der Mensch, das Bild Gottes?
(AThANT
101), Zürich 2011.

Wilke,
Annette: Advaita-Vedânta, Mysticism, and Perennial Philosophy.

Outsider and Insider Discourses and the Opening of an Orthodox
Monastic Tradition
by Swami Chinmayananda and Swami Dayanada, in:

Dies. / Robert Stephanus/ Robert Suckro (Eds.): Constructions of
Mysticism as a Universal:
Roots and Interactions Across Borders,
Wiesbaden 2021, 397-451.

Anmerkungen

1 Gerstenberger
2005.

2
Bormann 2022, 129.

3
Ebd., 137f

4
Neumann-Gorsolke 2004; vgl.
dies. 2000 und 2013 im Rückgriff auf Görg 1977.

5
Dies. 2004, 48-51.

6
Herms 2005.

7
Kunz-Lübcke 2008;
Brueggemann/ Bellinger
2014, 59-61.

8
Böhler 2021, 1722-175.180f.

9
Elsas 2003.

10
Herter 1988.

11
Platon, Symposion 191d-193d,
dazu Dafni 2010,66).

12
Elsas 2017,66.

13
Ebd., 19.

14
Ebd., 19-21.

15
Ebd., 212f.217.

16
Graham 1987, 90.129-137.

17
Ramelli in Wilke 2021,44-48.

18
Elsas 2017, 217.

19
Baier 2021,368f.

20
Wilke
2021,399.445.

21
Reiter 2021, 343.347.

22
Elsas 2021, 358f.

23
King 2021, 461.

24
Gutierrez 2013, 46 sowie Elsas 360f. und Wilke 2021, 399.

25
Crüsemann 1992, 60.

26
Neumann-Gorsolke 2013, 1
7-22).

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