Der Djihadismus der Frauen – Formen islamistischer Radikalisierung

Fethi Benslama / Farhad Khosrokhavar:
Le jihadisme des femmes.
Pourquoi
ont-elles choisi Daech?
 = Der
Djihadismus der Frauen.
Warum haben sie den “Islamischen Staat” gewählt?
Paris: Seuil 2017, 102 pp. — ISBN 978-2-02-135914-5 

Seinen
neuesten Essay hat der Psychoanalytiker Fethi Benslama zusammen mit dem
Soziologen Farhad Khosrokhavar geschrieben. Benslama
ist Professor für Psychopathologie an der Pariser Universität Diderot, Farhad Khosrokhavar arbeitet an der sozialwissenschaftlichen
Elite-Hochschule (EHESS in Paris, Marseille, Toulouse) und ist zugleich Forschungsdirektor
der Stiftung „Haus der Humanwissenschaften“. 



Aus psychologischer und sozialwissenschaftlicher
Sicht gehen die beiden Autoren den persönlichen Lebenswegen junger Frauen nach,
die sich auf den Djihadismus einlassen.
Es ist übrigens davon
auszugehen, dass etwa 10% Frauen sind – von den schätzungsweise 5000
europäischen Djihadisten, die in den letzten Jahren Ausbildungskurse beim DAECH
gemacht haben (
DAECH = arabische Abkürzung für „Islamischer Staat im Irak
und in der Levante“ [ISIS]).



Für ihre Thesen haben die Autoren etwa 60 „Fälle“ genauer
untersucht. Sie haben dazu das Beziehungsgeflecht von pervertierten islamischen
Normen im Sinne des IS und psychischen Elementen in der Entwicklung junger
Frauen herausgearbeitet. Hier spiegelt sich im Grunde ein Privileg der späten
Moderne, in der die Adoleszenz immer früher anfängt und später aufhört. Weil
sich für viele jedoch keine positiven Zukunftsvisionen zu eröffnen scheinen,
kommen sie nicht aus der Adoleszenz heraus. Dadurch wird eine
repressive und regressive Utopie für
sie attraktiv (S. 10f., S. 99). Sie meinen, dass sie auf diese Weise, in das
Erwachsenenalter kommen und so ihren eigenen Traumata entfliehen können. 


Dieser spannend zu
lesende Essay ist natürlich keine systematische, vielmehr eine zugespitzte Fokussierung.
Die Autoren zeigen, wie solche religiös besetzte Extremismus-Haltungen zustande
kommen und welche sozialen Spannungen sich auftun: Das beginnt z.T. mit der
Ablehnung der modernen Familie und damit auch der
Negierung
der Gleichheit von Frau und Mann
.
Durch den Kontakt mit den Djhadisten bereits vor Ort entsteht eine neue
Lebensqualität durch Abgrenzung vom Bisherigen. Nach der Ausreise werden durch Heiraten
„à la Daech“ diese Frauen zu Ehefrauen bzw. Konkubinen (genötigt). Der
Glaubenskämpfer wird als „Prinz“ gesehen, dessen Glorie zur Ehefrau abstrahlt.
Sie ist die „negative Heldin“ (S. 36) und durch die Geburt von Kindern als Mutter
herausgehoben, während die gefangenen „ungläubigen“ Frauen vom IS als
Sexsklavinnen entwürdigt werden. Eine weitere
Sinnstiftung des Lebens ist
der in Kauf zu nehmende Tod
,
der die aktiven Frauen den Männern doch wieder (fast) ebenbürtig macht –
Martyrium
als Heilsqualität
. Die Frauen werden in
ihrer Radikalisierung so zu „Übermuslimas“, parallel zu dem, was der Psychologe
in seinem Buch Der Übermuslim (französisches
Original: 2016, deutsch: 2017) bereits beschrieben hatte.

Mit dem Salafismus als
Heilslehre wird diese Ideologie zugleich als Provokation gegen den andauernden
und wachsenden Laizismus der umgebenden Gesellschaft gesehen.
Das eigene
Lebenskonzept wird damit religiös und auf Transzendenz hin aufgeladen
. In der Praxis des IS und auch
vergleichbarer Gruppierungen führt dies jedoch zu einer
körperfeindlichen
Unterdrücker-Ethik für die Frauen
. Die weibliche Sexualität muss sich darum bewusst hinter dem Schleier
verbergen. Diese Verachtung des eigenen Körpers wird kompensiert zugunsten der
eschatologischen Vision von der sog. Rückkehr zu den echten islamischen
Ursprüngen. Gegenüber einer dialogoffenen Religion zeigt sich hier ein
dualistisches
religiöses Muster von heilig/gut und weltlich/böse
als Leitmotiv. Die Folge ist eine
Lebenshaltung, die von Verboten und Sanktionen geprägt ist.
Die meist in Europa erfolgte Konversion der Frauen als bewusste Abkehrung vom westlichen
Lebensstil hatte eine große Heilserwartung ausgelöst. Sie wird nun durch die
brutale Realität von Tod und Schmerz oft genug enttäuscht, verbunden mit
traumatischen Erlebnissen. Die nach Identität suchenden jungen Frauen können
und dürfen jedoch ihre Zweifel und Ängste nicht aussprechen. Sofern sie das
tun, werden sie brutal sanktioniert. Der Weg zurück nach Europa ist jedoch auch
versperrt. Damit sind sie zu Gefangenen des IS geworden – gerade auch
angesichts der aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder. Es wirkt makaber: Die seltsame

Sakralisierung der Frau gewinnt in der Hierarchie
islamistischer Fundamentalisten neue, allerdings höchst problematische
Qualitäten und entsetzliche Sackgassen für einen Teil der betroffenen Frauen,
von denen einige bereuen, andere jedoch verhärtet oder unsicher bleiben. 
 Und eine weitere
psychologische Auffälligkeit zeigt sich im Blick auf die eigene (ehemalige)
Familienzugehörigkeit. Sie führt zum Mitleid mit der Mutter, die diese
Veränderung der Tochter leider ertragen muss, während die Väter so gut wir gar
nicht ins Spiel kommen.
Bilanz: Die von den beiden
Autoren eingeleiteten sozialwissenschaftichen und psychologischen Annäherungen zeigen
ein komplexes Zusammenwirken gesellschaftlicher und individueller Faktoren. Das
führt zu einer nachdenklich machenden Schlussorientierung: Beim Djihadismus der
Frauen handelt es sich zuerst um eine „wohltuende Regression“ („regression
bienfaitrice“, S. 99): Ihre Adoleszenz hört nicht auf. Sie sind durch ihre
Biografien von einer verarmten Religiosität und von einer rudimentären
Sakralität geprägt. Sie lassen sich darum auf 
repressive Ideale ein, die Heil in einer Gemeinschaft plakatieren,
die von Rückkehrern zu mythischen-religiösen Ursprüngen organisiert werden. Sich
hier zu engagieren, führt zu einer Freude des Kämpfens, des Leidens und
bewusster Annahme von Qualen. Das geht hin bis zur Annahme des Todes, nicht um
sich im Nichts aufzulösen, sondern um an einem vermuteten vollkommenen Leben
teilzuhaben. 

Es ist eine Gegengeschichte zur großen Narrative der Moderne
(S. 99).
Angesichts der Niederlagen des IS und den
zunehmenden Rückkehrerinnen aus dem Nahen Osten ist die moderne westliche
Gesellschaft nun besonders genötigt, Orientierungen für diese Frauen in die
Wege zu leiten, die ihnen eine Identitätsstärkung für eine Zukunft ohne die
IS-Mythen ermöglicht. Fethi Benslama und Farid Khosrokhavar haben eine
beeindruckende, knappe Analyse vorgelegt, der nun politische Konsequenzen einer
freiheitlichen Gesellschaft folgen müssen, um die durch den Djihadismus
geschlagenen Wunden zu heilen.

Reinhard Kirste

Rz-Benslama-jihadisme, 02.01.18

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