Gilles Kepel: Krisen und Kriege rund um das Mittelmeer und im Nahen Osten – Erschütterung der Weltordnung (aktualisiert)

Präsentationen/ Rezensionen
mehrerer Titel


1. Le Bouleversement
du Monde

Die Welt im Umbruch

Paris:  Plon 2024, 176 pp.

EAN 13: 9782259320887
ISBN 978-2-259-32088-7
Bilan et perspectives
du 7 Octobre.

 
 
Die Sogwirkung des pogromartigen Raubzugs Razzia) der Hamas am 7. Oktober 2023 und des anschließenden Massenmords an den Palästinensern in Gaza hat die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführte Weltordnung erschüttert. Nach einer eingehenden Analyse der politisch-religiösen Logik, die diese mörderischen Leidenschaften entfesselt, bietet der Autor  von Holocaustes hier eine perspektivische Darstellung des daraus resultierenden Umbruchs.
Zunächst zeigt sich eine geopolitische Erschütterung durch die Entstehung eines selbsternannten „Globalen Südens“, der die Hegemonie des „Nordens“ widerruft. Zweitens kommt es zu einem moralisches Erdbeben, als der Begriff „Völkermord“, der historisch mit der Gründung des Staates Israel verbunden ist, bis in die höchsten Etagen der UNO unterwandert wird. Und schließlich folgt eine gesellschaftliche Spaltung in den Demokratien des „Nordens“, die von einer neuartigen Polarisierung der Identität zwischen linksextremem, übersensiblem  Bewusstsein (Wokismus) und rechtsextremem Populismus geplagt werden.
Von der Blockade der Universitäten bis hin zum Einzug der palästinensischen und israelischen Anliegen in die wichtigsten Wahlen in Europa und Amerika zeigt Gilles Kepel die Verwerfungslinien auf, die der 7. Oktober in unserer Gegenwart und Zukunft vertieft hat.
Vor uns liegt eine begründete Geschichtsdarsellung der Gegenwart, genährt von der Tiefenschärfe eines anerkannten Experten des politischen Islamismus und seiner weltweiten Auswirkungen.
 
2. HOLOCAUSTES
Paris: Plon 202, 216 pp.
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 2259319629 — ISBN-13 ‏ : ‎ 978-2259319621

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Rezension: Prof. Dr. Peter Antes (Yggdrasill, 7.11.2024)

Der bekannte französische Islamwissenschaftler und
Bestsellerautor Kepel hat mit diesem Buch eine Art Verlaufsprotokoll der
Ereignisse seit dem Hamas Massaker auf Israel vom 7. Oktober 2023 bis zum
Februar 2024 vorgelegt, das ohne Parallele auf dem deutschen Buchmarkt ist.
Er startet im Prolog (S. 9f) mit Begriffsdefinitionen:
Holocaust, ursprünglich ein religiöses Opfer, bei dem das Opfer völlig
verbrannt wird, steht heute häufig generell für „Vernichtung“, weshalb es auch
im Plural vorkommt wie im Titel seines Buches zur Kennzeichnung von
Vernichtungen sowohl israelischer Juden als auch muslimischer Palästinenser;
Shoah ist hebräisch und unterstreicht als Terminus für „Vernichtung“ im Unterschied
zu dem erwähnten modernen Verständnis von Holocaust die Einmaligkeit der Vernichtung
der Juden durch die Nazis;
Genozid bezeichnet dagegen von vornherein universal jede Art von Völkermord.
Der Hauptteil des Buches besteht aus vier Kapiteln, die jeweils die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven betrachten:
Das erste Kapitel behandelt die Ereignisse aus Sicht  der Muslime. Das als „Aksa Flut“ bezeichnete Massaker der Hamas wird dabei verbunden mit der Vernichtung der Ungläubigen durch Gottes Sintflut zur Zeit Noahs und eingereiht in die Geschichte der Vertreibung der
Palästinenser (Nakba) bei der Errichtung des Staates Israel 1948 sowie die
Kriege zwischen den Arabern und Israel und nicht zuletzt die verzweifelten
Proteste der Intifada gegen die Besatzungsmacht Israel bis hin zu terroristischen Angriffen
im Namen des Islam gegen Ziele und Menschen im Westen (in Europa und den USA,
einschließlich des 11. September 2001). In einer berühmten Rede weitet der
inzwischen durch die Israelis getötete schiitische Generalsekretär der
libanesischen Hizbollah Scheich Hassan Nasrallah am 3. November 2023 den
Konflikt räumlich aus, indem er alle Araber zur Mitwirkung aufruft „vom Golf bis zum Ozean“ und auch die Muslime in Europa in diese von Gott gesegnete, den
Sieg ankündigende Razzia einbeziehen will. Bekanntlich gelingt dadurch der
Schulterschluss mit den Huthis im Yemen und der religiösen Führung in Teheran.
Das zweite Kapitel beschreibt die Reaktionen in Israel auf das Massaker vom 7. Oktober.
Wie die Djihadisten im Islam bestimmte Passagen der heiligen Texte wortwörtlich nehmen und daraus ihre konkrete Politik ableiten, verfahren die Zeloten des gegenwärtigen Judentums und
diktieren Netanyahu, wie er gegen Hamas und die Bevölkerung im  Gazastreifen
vorgehen soll.
  (vgl. S. 91f). Ihre Aktionen führen zu einer irreparablen Verwüstung des Landes und zu einer beispiellosen Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die
sich äußerst kontraproduktiv für die Unterstützung auswirken, die Israel gerade braucht.
Das dritte Kapitel hat als Überschrift: Geopolitik eines Massakers.
Es zeigt zwischen S. 108 und 109 wertvolle farbige Karten aus dem Krisengebiet wie der Region und beschreibt die Auswirkungen des Hamas Massakers und der Reaktonen Israels auf die Politik der Türkei, Qatars sowie Moskaus und Pekings und damit die geopolitischen Veränderungen von der „Dritten Welt“ zum „Globalen Süden“.
Das vierte Kapitel ist dem „Aufschrei gegen den Westen“ (Haro contre l’Occident) gewidmet. Typisch für diese Anklage ist der Antrag Südafrikas auf Verurteilung Israels wegen Völkermordes beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag,
der dort am 11. und 12. Januar 2024 verhandelt wurde. Dabei ging es vor allem um Aussagen der Minister Itamar Ben-Gvir, Bezalel Smotrich oder Yoav Gallant, die die Existenz
eines palästinensischen Volkes geleugnet und damit die Zwangsvertreibung der
Einwohner wie „menschliche Tiere“ von Gaza gerechtfertigt haben.
Am 26. Januar 2024 verkündete der Internationale Gerichtshof – wie im Epilog beschrieben –
sein Urteil: Die Geschehnisse lassen völkermordähnliche Züge  erkennen, weshalb
Israel alles tun soll, um einen Völkermord zu verhindern. Dieses Urteil wurde
von den Vertretern der BRICS-Staaten (BRICS ist ein Akronym aus den
Anfangsbuchstaben für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, wozu seit
2024 noch Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören)
sowie der EU begrüßt, nur Israel und die USA haben es
kritisiert. Wenn es den USA und dem Westen nicht gelingt, einen palästinensischen Staat
zu schaffen, wird der „globale Süden“, allen voran die BRICS-Staaten unter
der antiliberalen und antiwestlichen Führung Moskaus und Pekings,  davon profitieren.
Der Epilog beschreibt die verschiedenen Versuche zur Beilegung des
israelisch-palästinensischen Krieges und deren  Scheitern. Dabei
hat Europa sein tatsächlich vorhandenes Potenzial nicht ausreichend genutzt,
denn Europa stellt ein außergewöhnliches Laboratorium für Verschmelzung
(fusion), über alle ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten hinaus, dar.
„Sein Dilemma besteht im kulturellen Kampf zwischen denen, die sich auf die
demokratischen Werte des alten Kontinents berufen möchten, und
denen, die separatistische Enklaven zum Sturz des Rechtsstaates bilden
wollen.“ (S. 191).  Hier wäre ein deutlich hörbareres Bekenntnis zu den westlichen
demokratischen Werten nach Kepel seit langem wünschenswert.

„Die Glaubwürdigkeit des westlichen demokratischen Modells, das auf dem Rechtsstaat
beruht, ist in einem Moment, in dem dieser von antiliberalen Regimen des ‚Globalen Südens‘
verunglimpft wird, nicht von geringer Nachwirkung als Folge vom 7. Oktober. Als
Auftakt zu Harmagedon, nach dem die Kriegsparteien im Heiligen Land streben.“ (S. 199)  


Gilles Kepel : „
Le Hamas a atteint une victoire encore plus grande que le 11 Septembre“ (L’Express, 19.03.2024)

3. Sortir du chaos
Les crises en Méditerranée 
et au Moyen-Orient
Paris: Gallimard 

2018, 536 pp., illustr.
Aus dem Chaos herauskommen. Die Krisen im Mittelmeerraum und im Mittleren Osten
Cartes inédites de Fabrice Balanche — 

Collection: Esprits du monde –>>> Leseprobe: hier 

Gilles Kepel 2013 (Wikipedia.fr)


Verlags-
information mit deutscher Übertragung
L’horreur du «califat » de Daesh au Levant entre 2014 et 2017 et son terrorisme planétaire ont été une conséquence paradoxale des «printemps arabes» de 2011. Pourtant ceux-ci avaient été célébrés dans l’enthousiasme des slogans démocratiques universels et de la «révolution 2.0». 
Comment s’est installé ce chaos, et peut-on en sortir pour de bon après l’élimination militaire de l’«État islamique»?
Ce livre replace les événements en contexte, depuis la guerre d’octobre 1973 (du «Kippour» ou du «Ramadan»), suivie de l’explosion des prix du pétrole et de la prolifération du jihad, à travers ses trois grandes phases depuis l’Afghanistan et Al-Qaïda. Puis il propose le premier récit complet rétrospectif des six principaux soulèvements arabes, de la Tunisie à la Syrie.
Il expose enfin lignes de faille et pressions migratoires en Méditerranée et au Moyen-Orient, et éclaire les choix décisifs qu’auront à faire Emmanuel Macron, Donald Trump ou Vladimir Poutine, ainsi que les peuples et les dirigeants de cette région – mais aussi les citoyens de l’Europe.
Nourri de quatre décennies d’expérience, de séjours sur le terrain, avec des cartes inédites, Sortir du chaos est de la plume de Passion arabe et offre la précision de Terreur dans l’Hexagone – les deux grands succès récents de l’auteur.



Deutsche Übertragung
Der Schrecken des „Kalifats“ des sog. Islamischen Staats im Nahen Osten zwischen 2014 und 2017 und sein globaler Terrorismus waren eine paradoxe Konsequenz des „Arabischen Frühlings“ von 2011. Denn der „Arabische Frühling“ war enthusiastisch mit universaldemokratischen Parolen als „Revolution 2.0“ gefeiert worden.
Wie hat sich dieses Chaos installiert, und kann man nach der militärischen Niederlage des „Islamischen Staates“ auf gutem Wege da herauskommen?
Dieses Buch stellt die Ereignisse in einen größeren Kontext. Es bezieht sich auf den Krieg im Oktober 1973 („Yom Kippur“- oder „Ramadan“-Krieg). Dann folgte die Explosion der Ölpreise und die Verbreitung des gewaltsamen Dschihad durch seine drei großen Phasen seit dem Afghanistan- und Al- Qaida-Konflikt. Weiterhin nimmt der Autor den ersten vollständigen Rückblick auf die sechs großen arabischen Erhebungen von Tunesien bis Syrien vor.
Schließlich werden die Bruchlinien und der Migrationsdruck im Mittelmeerraum und im Nahen Osten aufgedeckt. Daran schließt Kepel entscheidende Weichenstellungen an: von Emmanuel Macron, Donald Trump und Wladimir Putin sowie den Völkern und Führern dieser Region – aber auch durch die Bürger Europas.
Getragen von vier Jahrzehnten der Erfahrung und zahlreichen  Aufenthalten in dieser Region bietet Kepel zusammen mit unveröffentlichten Karten in „Sortir du Chaos“ eine präzise Situationsanalyse. Sie knüpft an die großen Erfolge seiner letzten beiden Bücher an:  Passion arabe (2016 – arabische Leidensgeschichte  und Terreur dans l’Hexagone  (2015 – Terror in Frankreich) – die beiden jüngsten großen Erfolge des Autors.


4. Weitere Veröffentlichungen
von Gilles Kepel

5. Besonderer Blick auf das Buch: 


La Revanche de Dieu.
Chrétiens, juifs et musulmans à la reconquête du monde
Paris: Seuil 1991, 288 pp.

„Die Rache Gottes“ (1991) – Rezension
(Hakan Songur, taz , 23.04.1993)
— Rezension der englischen Ausgabe: 
The Revenge of God (1994)
Reinhard Kirste,
JIS Vol,. IX, No. 1-2, p. 188-190)

6. La Fracture
[Der Bruch].
Hors Série: Connaissance.
Paris: Gallimard / France Culture 2016, 288  pp.


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