Innerislamische Kontroversen um Koexistenz und Gewalt

Zusammenfassende
Rezension   

Ausführliche Besprechung:
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Tilman Seidensticker (Hg.): Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt.
Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2011; VIII, 184 S., Index der modernen
muslimischen Denker
ISBN
978-3-447-06534-4

Das Wort
„Islam“ verbindet sich für viele mit „Gewalt“. Sich auf den Islam berufende
Terroristen rechtfertigen ihr Tun damit, dass sie behaupten, diese
Gewalttätigkeiten seien von der islamischen Tradition her gerechtfertigt.
Allerdings richtet sich die Gewalt nicht nur gegen „Ungläubige“, sondern
vielfach auch gegen Muslime selbst. Nun gibt es durchaus Gewalt befürwortende
und Gewalt ablehnende Richtungen innerhalb der islamischen Welt. Der Jenaer
Arabist und Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker hat nun mit einer Reihe
von Fachleuten (überwiegend der jüngeren Wissenschaftler-Generation) diese
„Islamischen Kontroversen über Berechtigung von Gewalt“ genauer untersucht.

Zehn
Jahre nach den Anschlägen vom 11. September in den USA und am Beginn des
„arabischen Frühlings“ stellt sich die Frage nach der möglichen Zwangsmentalität
einer Religion besonders intensiv. Es lässt sich ja kaum vorhersagen, welche
Entwicklungen in der islamischen Welt insgesamt dominieren werden. Die
dogmatisch auftretenden Fundamentalisten fordern eine Rückkehr zu den Regeln
und Statuten der Urgemeinde, wohlgemerkt, wie sie diese verstehen. Die
Konsequenz ist oft genug, dass sie ihr Verständnis auf konfliktreiche Art und
gegen alles „Westliche“ in die Gegenwart zu übertragen versuchen.
Andersdenkende werden als Häretiker oder Ungläubige diffamiert. Aber das ist
nur die eine Seite, wenn man einmal genauer die innerislamischen Kontroversen betrachtet.
Es geht grundsätzlich
um die Spannung zwischen Toleranz und Gewalt, zwischen Verteidigung von
islamischen Errungenschaften und Kampfansage an die Ungläubigen, die in den
unterschiedlichen Auslegungen von djihad
zum Ausdruck kommen, nämlich (Mariella Ourghi, Freiburg). Das Absolutheitsdenken scheint in diesem Zusammenhang eine
wesentliche Positionsverschärfung mitzubringen: Monopolanspruch auf das
Paradies (so Johanna Pink, Berlin). Dagegen stehen flexiblere und Dialog offene
Haltungen wie die von Said Nursi (1876 [?]–1960, kurdischer Herkunft, Türkei)
und Mahmud Taha (1909 /1911–1985, Sudan), bis hin zur sog. Mardin-Intiative muslimischer
Intellektueller von 2010. Die Djihad-Doktrin
zwischen gewaltsamem Vorgehen gegen Ungläubige und Verteidigung des (wahren)
Glaubens braucht also eine dringende Neubesinnung, um den Terrorismus gegen
sog. falsche Muslime und „westliche Ungläubige“ auszubremsen. Hermeneutischen
Monopolansprüchen bei der aktualisierenden Auslegung der Prophetentradition,
der Hadithe, muss darum ein Riegel vorgeschoben werden. Selbst innerhalb des
islamistischen Spektrums gibt es inzwischen eine wachsende Ablehnungsfront
gegen extreme, sich auf den Koran und die Prophetentradition berufende Gewaltbereitschaft
(Rotraud Wielandt, Bamberg). Die Frage bleibt allerdings, ob es eine neue
Hermeneutik gegen islamistische Gewalt aus der derzeitigen religiösen
Gemengelage heraus geben wird. Die extreme
Spannbreite der Djihad-Verständnisse zwischen
rückwärts gewandter Veränderung und liberaler Reform hat bekannte Namen an den
jeweiligen „Eckpunkten“. Sie reichen von al-Maududi über Sayyid Qutb bis zu
Fazlur Rahman und Mahmoud Taha.
Dieser
Sammelband gibt differenzierende Einführungen in zeitgenössische Kontroversen
zum Thema „Gewalt“. Er ist für alle empfehlenswert, die als aufmerksame
Zeitgenossen die innerislamisch-theologischen, islamistischen und
gesellschaftspolitischen Bewegungen besser verstehen wollen. Da das Spektrum
dieser Debatte noch wesentlich größer ist, als in dieser Zusammenstellung
angezeigt werden konnte, wäre sicher ein Fortsetzungsband sinnvoll.
Reinhard Kirste
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