An dieser Stelle wird der Blick in die Geistesgeschichte des Islam dringend notwendig, weil allein die Vielfalt islamischer Ausprägungen seit den Anfängen im 7. Jahrhundert nachdenklich machen müsste. So zeigt die Koran-Auslegung der ersten Jahrhunderte bereits eine verstärkte systematische Einbeziehung der Vernunft und ein generelles Offensein für andere Denkweisen. Der Transfer der griechischen Philosophie durch arabische Übersetzer und Kommentatoren erweitert das islamische Glaubensverständnis mit Erkenntnismustern, die von der Vernunft geprägt sind. Das gilt nicht nur für die wissenschaftlichen Aufbrüche von Bagdad und Córdoba als Kulturmetropolen des Mittelalters.
In der Gegenwart findet sich in einigen Konzepten islamischer Theologie und Philosophie der Bezug zur theoretischen und praktischen Vernunft im Sinne Immanuel Kants. Dies gilt besonders für die Schia.
Europäisch – Definitionsversuch:
Der moderne Begriff der Vernunft ist weitgehend durch die Aufklärung und besonders durch Immanuel Kant geprägt: Menschliches Denken ist in der Lage, Sachverhalte und Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. Das geschieht durch Beobachtung, Erfahrung und mit der Entwicklung theoretischer Prinzipien und Konzepte zur Erfassung der Wirklichkeit. Die Ergebnisse sind logisch nachvollziehbar und unabhängig von Glaubensvorstellungen nachprüfbar. Hier handelt es sich um die theoretische Vernunft. Wenn es jedoch um das Handeln geht, werden die Kriterien der praktischen Vernunft wirksam, die sich mit moralischen Fragen auseinandersetzt und ethische Lebensorientierung geben kann. Es ist allerdings auch möglich, die praktische Vernunft an Prinzipien von [ökonomischem) Erfolg und Effizienz auszurichten.
Streitgespräch: https://de.wikipedia.org/wiki/Kal%C4%81m
— Aql = Denkvermögen als Basis für den Erkenntnisakt
und Brücke für den Glauben an Gott
(Sure 3,7; 16,78; 22.46; 356,41-42; 67,10).
Detaillierte Einführungen:
- Frank Griffel: The Formation
of Post-Classical Philosophy in Islam
Oxford University Press (UK) 2021, 656 pp., index
>>> Inhaltsverzeichnis (academia.edu) >>>
>>> Präsentation mit Inhaltsverzeichnis unter „Ein-Sichten“ >>>
- Mohamed Turki: Einführung in die arabisch-islamische Philosophie.
Freiburg/Müchen: Karl Alber (Herder) 2015
Ausführliche Besprechung: hier
Anthony Robert Booth: Analytic Islamic Philosophy.
London (UK): Palgrave Macmillan 2017, XV, 222 pp., illustr.
Analytische islamische Philosophie:
Griechisches Erbe, Al-Kindi,
Al-Farabi, Al-Ghazali, Avicenna, Averroes- Majid Fakhry: Islamic Philosophy, Theology and Mysticism.
A Short Introduction
Oxford (IK): 1997, reprinted also 2003, 159 pp., index
Information, contents, abstracts (amazon) - Ayman Shihadeh / Jan Thiele (Hg.):
Philosophische Theologie des Islam.
Der spätere Ascharismus im Osten und im Westen.
Leiden: Brill 2020 - Reza Hamid Yousefi: Einführung in die islamische Philosophie.
Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart.
UTB 4082. Paderborn: W. Fink 2014
Ausführliche Besprechung >>> - Maha El Kausy-Friemuth / Reza Hajatpour /
Mohammed Abdel Rahem (Hg.):
Rationalität in der islamischen Theologie,
Band I: Die klassische Periode
Berlin u.a.: De Gruyter 2019, XVII, 492 S.
Seyyed Hossein Nasr: Ideal and Realities of Islam with a New Preface
by Titus Burckhardt. San Francisco: Aquarian (HarperCollins 1994, 198 pp., index
– Information: Google Books
Ulrich Rudolph (Hg.): Abū Naṣr al-Fārābī:
Die Prinzipien der Ansichten
der Bewohner der vortrefflichen Stadt.
Berlin: De Gruyter 2022 (August)
X, 232 S.
Georg Cavallar:
Islam, Aufklärung und Moderne.Stuttgart: Kohlhammer 2017 – Mehr zum Buch (mit Inhaltsverzeichnis):
(Sure 16.12).
![]() |
Aus „Lan Tabur“ (= nicht vergeblich), Themenregister des Al-Qur’an al-Karim
von Ibn Rassoul. Köln: Islamische Bibliothek 1993 S. 1153 |
Wichtige Daten und wissenschaftliche Erkenntnisse (Zeittafel)
Abu Nasr Muhammad al-Farabi (870–950) als oberste Instanz das Verstehen im Sinne der Ratio ein.
le lourd héritage d’une raison décriée
Le Monde Des Religions, 01.08.2018
— ADANG, Camilla / SCHMIDTKE, Sabine / SKLARE, David (eds.):
A Common Rationality: Mu´tazilism in Islam and Judaism.
Istanbuler Texte und Studien Bd. 15. Würzburg: Ergon 2007, 520 S., Register
Beiruter Texte und Studien – BTS, Band 119
Hg.: Arnim Heinemann, John L. Meloy. Tarif Khalidi, Manfred Kropp
Würzburg: Ergon 2009, 295 S. — Rezension von Hakan Özkan in:
Die Welt des Islams, Volume 55, Issue 1, pages 113 – 116
— Konferenzbericht zu Al-Jahiz:
20. – 22.01.2005 – American University of Beirut
— Raschid al-Gannuschi (* 1941)
Der tunesische Politologe Raschid al-Gannuschi und die Verbindung von Islam und Demokratie
and Void in Basrian Mu’tazili Cosmology.
Leiden u.a.: Brill 1994, VII, 209 S., Register
— J.R.T.M. Peters: God’s Created Speech.
A study in speculative theology of the Mu’tazili Qadi
l-Qudat Abu l’Hasan Abd al-Jabbar bn Ahamad al-Hamadani.
Leiden (NL): Brill 1976
— Inhaltsverzeichnis und 55 Seiten Leseprobe: hier
Leiden (NL): Brill 2016, 200 pp.
and Their Impact on Islamic Thought. Leiden (NL): Brill 2016
nking on Muslim, Jewish and Christian medieval thought. She argue that freethinking, as exemplified by figures like Ibn al-Rāwandī (9th C.) and Abū Bakr al-Rāzī (10th C.), was a pivotal phenomenon, that had a major impact on the development of Islamic thought. In the present context of religious violence carried out in the name of Islam, this book highlights the striking existence of independent freethinking in the world of Islam.
Eine intensive Auseinandersetzung fand mit den neuplatonischen Positionen
des Mediziners, Philosophen und Mystikers
Ibn Sina (latinisiert = Avicenna, 980–1037) statt.
Die gegenteilige Meinung legte der berühmte spanische Arzt und Philosoph
Ibn Rushd (latinisiert = Averroës, 1126–1198) dar.
Er stand in der rationalistischen Entwicklungslinie des Aristoteles,
den er umfassend aktualisierend kommentierte.
-
Omar Merzoug — Avicenne. Ou l’islam des Lumières
Paris: Flammarion 2021, 416 pp. - Zur Metaphysik von Avicenna (Ibn Sina):
The Universal Science (ʿIlm-i kullī) by Mahdī Ḥāʾirī Yazdī
Hg.: Saiyad Nizamuddin Ahmad.
The Modern Shīʿah Library, Band 2
Leiden: Brill
2017, XII, 2014 pp.
).Rezension von Frank Griffel
in „Journal of World Philosophies“,
3/2018, p. 169-173 >>> - Jules Janssens: The Physics of Avicenna Latinus
and Its Sigificance for the Reception
of Aristotle in the West
In: The Letter before the Spirit, Middle East and Islamic Studies , 2012, Vol. 22, p. 311-330 - Simone von Riet / Jules Janssens / André Allard (eds.): Avicenna Latinus
— Liber Primus Naturalium. Tractatus seundus:
De motu et de consimilibus.
Leuven: Peeters 2006
Rezension in: British Journal of the History of Science,
Vol. 41, Issue 1, pp. 131-132
— Tractatus Tertius. De his qui habent naturalium
ex hoc quod habent quantitatem.Édition critique.
Leuven (B): Peeters 2017; VI-22*, p. 377-537 - Ortwin Gebauer: Das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bei Averroes
und Thomas von Aquin. Eine vergleichende Studie.
St. Ottilien: EOS 2018, 160 S. — Verlagsinfo mit Autorenhinweis: hier - Avicenna. Ein Muslim im Kirchenfenster (spektrum.de, 01.01.2003)
![]() |
Paris – Ausgabe 1994 zu: Table Ronde UNESCO 9-10 décembre 1985 |
Ebenso intensiv verlief die Auseinandersetzung des Averroes mit
Abû Hâmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazali (1058-1111)
Diese zeigte sich besonders in der Spannung von aristotelischer Philosophie, Rechtssetzung der Glaubenspraxis, Mystik und vernunftgemäßer Theologie.
Insgesamt ging es um die Übernahme der hellenistischen Philosophien und einer daraus zu entwickelnden
Koran-Hermeneutik mit den dazugehörigen
Evidenz-Kriterien. Al-Ghazali wirkte hier eher rückwärts orientiert, obwohl er sich auch auf die artistotelelische Logik und Ethik bezog.
Insgesamt wirkten aufklärerische Tendenzen auch in den Sufismus hinein. Dies lässt sich besonders deutlich an Ibn Arabi von Murcia (1165-11240) zeigen.
Die Philosophie des Averroës beeinflusste darüber hinaus die gesamte mittelalterliche christliche Theologie, besonders die Universität Paris. Das Verbot des Averroismus im Jahre 1270 durch den Pariser Bischof Templier hatte nur begrenzte Wirkung.
Allerdings kam es bereits im 12./13. Jahrhundert dazu, dass kaum noch neue Ideen diskutiert wurden, weil die Theologen (auch im Interesse islamischer Herrscher) in ihrer Jurisdiktionsfunktion die freie Forschung mehr und mehr einschränkten. Außerdem sollte das Tor der (freien) Auslegung (Idjitihad oder Idschtihad) geschlossen werden, um neue Interpretationen nicht mehr zu ermöglichen. Hier spielt der Theologe und Vertreter der hanbalitischen Rechtssschule Ibn Taimiya (1263-1321) eine problematische Rolle.
-
Tilman NAGEL: Die Festung des Glaubens.
Triumph und Scheitern des
islamischen Rationalismus
im 11. Jahrhundert. München: C.H. Beck
1988, 422 S., Register
Rezension in Bulletin of the School of Oriental and African Studies,
Vol 53, Issue 1, February 1990, pp. 130-131 - Vgl. Frank Griffel: Ibn Taymiya and His Asha’rite Opponents
on Reason and Revelation.
Similarities, Differences and a Vicious Circle.
The Muslim World Vol 108 (January 2018), p. 12-39
Eine bedeutende Transferrolle spielt der schiitische Philosoph und Theologie
Sadr ad-Din Shirazi – Mulla Sadra (um 1571/72 – 1640). In der Folge von Shihab al-Din al-Suhrawardi
(1153-1193) ist er der wichtigste Vertreter der illuminationistischen Philosophie und überhaupt der bedeutendste Philosoph seit Avicenna .
Vgl. dazu auch den Artikel auf acadmia.edu (Januar 2017, 19 S.)
INHALTS-ÜBERSICHT
3.1. Aufklärerische und dogmatische Entwicklungen
3.2. Sufismus
3.3. Traditionalistische Einflüsse im Mittelalter
3.4. Neuzeitliche Bewegungen
4.1. Averroes
4.2. Ibn Arabi von Murcia
A. Eine kleine Buchpräsentation
B. Beispiele islamischer Reformtheologen
6.1. Farid Esack
6.2. Hamid Nasr Abu Zaid
6.3. Leila Babes
6.4. Mouhanad Khorchide
6.5. Ankara-Schule
Download des gesamten Beitrags (mit Passwort): hier
- Islamische, jüdische und christliche Philosophie
– nicht nur des Mittelalters - Auseinandersetzung und Dialog mit dem Islam
- im christlichen Mittelalter
- Die religionsgeschichtliche Bedeutung
der Iberischen Halbinsel für den Trialog - Averroes und Averroismus – Erkenntnis im Horizont der Transzendenz
- „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“ – Europa üben …
- Aspekte zum Islam in Europa
Aspekte der Moderne
- Islam und Moderne – ein Widerspruch?
KWI-Symposium Essen, Mai 2018 - Lamya Kaddor (Hg.): Muslimisch und liberal.
Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht.
München: Piper 2020, 320 S.
Verlagsinfo – Inhaltsangabe – Leseprobe >>> - Mohammed Arkoun: Islam und Moderne (2004)
- Daniel Brown: Rethinking tradition in modern Islamic thought.
Cambridge Middle East Studies 5.
Cambridge, NY (USA): Cambridge Univ. Press 1996, X, 185 pp., index
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: hier - Malek Chebel: L’islam et la raison. Le combat des idées.
Paris: Perrin 2005, 239 pp. «L’islam apolitique de nos grands-parents
a perdu» Interview in Le Figaro, 14.11.2016 - Notwendigkeit und Schwierigkeiten:
Zur Erneuerung der Koran-Interpretation - Angelika Neuwirth: Islam, Koran und Aufklärung
(MiGAZIN, 21.11.2013) - Frank Griffel (Yale University):
Islamische Philosophie und westliche Forschung
Die Geschichte einer (bislang) nicht immer glücklichen Beziehung
— Islam IQ, 05.04.2014 - Festschrift für Reinhard Schulze:
Islam in der Moderne
– Moderne im Islam (Brill 2018) - Muhammad Sharour: Islam and Humanity.
Consequences of a Temporary Reading.
Berlin & London: Gerlach Press 2017, 224 pp.
Verlagsinformation mit Inhaltsverzeichnis: hier
New York: W.W. Norton & Norton 2017, 234 pp. |
islamischen Reformdenker/innen