Martin Schulze Wessel:
Der Fluch des Imperiums.
Die Ukraine, Polen und der Irrweg der russischen Geschichte
München: C.H. Beck 2023, 352 S., 20 Abb.,
ISBN 978-3-406-80049-8
Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er gehört zu den führenden Experten der Geschichte Osteuropas. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.
Das Buch beginnt mit einer prägnanten Einleitung, S. 7f:
„Seit dem 24. Februar 2022 ruft Russlands Krieg gegen die Ukraine Entsetzen hervor. Nachdem der Versuch einer raschen Machtübernahme in Kyiv gescheitert ist, zielt die russische Invasion auf die physische Zerstörung und symbolische Vernichtung des Nachbarlandes. Die Kreml-Propaganda spricht der Ukraine ihre nationale Identität ab, bezeichnet ihre politischen und kulturellen Eliten als «Faschisten» und versucht die politische Führung um Präsident Selenskyj systematisch zu entmenschlichen. Währenddessen beschießen die russischen Truppen Zivilisten und zivile Infrastrukturen. Ganze Städte liegen in Trümmern … In Deutschland hat es lange gedauert, die Augen für das ganze Ausmaß des Verbrechens zu öffnen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Ein Grund dafür liegt im Umgang mit der deutschen Geschichte. Das unvergleichlich größere Grauen des Holocaust und des deutschen Vernichtungskriegs im Osten Europas wirkte hemmend, wenn es darum ging, die russische Gewalt beim Namen zu nennen. Nur mühsam setzte sich die Einsicht durch, dass aus der deutschen Geschichte gerade im Verhältnis zur Ukraine eine besondere Verantwortung zur Leistung von Hilfe entsteht.“
In Kapitel 1 „Russlands Imperium, das Hetmanat und die Republik Polen (1700–1795) zeigt Moskaus Weg nach Europa“, S.23ff.. Es folgt „Das ukrainische Hetmanat zwischen Polen und Russland, S. 29; Wichtig ist dabei die Schlacht um „Poltava“, S. 35 und damit „Europas erster Ost-West-Konflikt“, S. 38ff. Ausgesprochen erhellend wirkt dann „Russland und die Ukraine nach dem Nordischen Krieg, S. 42Ff, sowie „Katharina II. als Vollenderin Peters I.“, S. 46 ff.
In Kapitel 2 richtet sich das Augenmerk auf die „Imperiale Ordnung und nationale Herausforderung (1796–1856) S. 71 ff: „Russlands Imperium im Zeitalter Napoléons“, S. 71, und „Die Heilige Allianz“, S. 78 sowie „ Der polnische Novemberaufstand als europäisches Ereignis“, S. 90, ferner „Russlands Antwort an Europa“, S. 94 ff, mit dem Blick auf „Polnische und ukrainische Befreiungsideen“, S. 96, und die „Identitätspolitik des Zarenreichs“, S. 105ff, und schließlich die „Geopolitik im Exil“, S. 107. Beachtenswert ist dabei die „Europäische Revolution und der Krieg um die Krim“, S. 110, sowie „Polens Aufstand und die russische Furcht vor der ukrainischen Frage“ S. 118 ff.
Kapitel 3 baut konsistent auf dem Vorherigen auf: „Die Idee von der russischen Exzeptionalität und das Ende des Zarenreichs (1856–1917)“, S . 127: „Das imperiale Ideen-Set nach dem Krimkrieg und dem polnischen Aufstand“ bringt „Ukrainische Alternativen“, S.137, im Horizont der „Zarischen Symbolpolitik und der Suche nach einer außenpolitischen Doktrin“, S. 143 und im Zusammenhang mit der „Nationale und sozialen Dynamik in der Ukraine“, S. 148ff.
Entscheidend ist „Der erste Weltkrieg“, S. 157, und die „Nationalstaatsgründung in Kyiv“ S. 162, im Zusammenhang mit „Revolution und Bürgerkrieg“ S.166 ff.
Entsprechend geht der Autor in Kapitel 4 vor: „Das sowjetische Experiment und die imperiale Tradition (1917–1991)“, S. 171: „Alte Grenzen, neue Grenzen“, S. 171, sowie „Nationalisierung der Kultur, Zentralismus in der Wirtschaft“, S.174, in Verbindung mit „Polen und dem Prometheismus“, S.181, dem „Holodomor“-Schrecken, S.186, und dem Verständnis von: „Das große russische Volk kehrt zurück“, S. 193. Besonders Deutsche sollten besonders beachten: „Von Rapallo zum Hitler-Stalin-Pakt“, S. 196, mit dem möglich werdenden „Krieg gegen Polen“, S. 206, in der Sowjetunion „Der Große Vaterländische Krieg“, S. 210. Es folgen „Russische und ukrainische Mythen“, S. 214. Entscheidend sind die Auswirkungen von „Jalta und der Kalte Krieg“, S. 216, und dem Verständnis: „Die Ukraine als zweite Nation der Sowjetunion“ S. 224, und den Folgen des „Poststalinismus“, S. 230. Die „Neue Ostpolitik“, S. 242, endet mit „Polen und die Ukraine in den letzten Jahren des Sowjetimperiums“, S. 249 ff.
Im abschließenden Kapitel 5 schildert Schulze Wessel spannend: „Die postsowjetische Ukraine und Russlands Neoimperialismus (1992–2022)“: „Die nachgeholte Revolution in der Ukraine“ und „Russlands Weg in die Diktatur“, S. 267. Es folgen Überlegungen „Fatigue und Sowjetnostalgie“,
S. 272. im Kontext von „Imperiale Infrastrukturen“, S. 281, und „Imperialen Phantasien: Dugin und Putin“, S. 285ff.
Zum „Schluss“, S. 293 ff. zieht er für die Lesenden durch den Verlust Russlands als Partner und „Nachbarn“ weitsichtige Vergleiche und Schlussfolgerungen für die „Zeitenwende“ in einer engen Partnerschaft mit der Ukraine. Insgesamt ein hoch aktuelles* und sehr weitsichtiges, lesenswertes Buch.
Ergänzende und aktualisierte Analyse zu Russland und dem Krieg in der Ukraine
Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn