Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit ——— Zum besseren Verstehen einer umstrittenen Religion (aktualisiert)

Prof. Mouhanad Khorchide,
Direktor des Zentrums
für Islamische Theologie (ZIT)
der Universität Münster

Der Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Mouhanad Khorchide gehört zu den wichtigsten moderen Vertretern eines aufgeklärten und dennoch der Tradition verbundenen Islam.
Mit dem folgenden Buch stieß er eine heftige Debatte an, die bis heute andauert.
Auch die weiteren Veröfentlichungen (s.u.) setzen diesen wichtigen Diskurs fort.

Mouhanad Khorchide:
Islam ist Barmherzigkeit. 

Grundzüge einer
modernen Religion
 
Freiburg u.a.: Herder 2012, 220 S. 

ISBN 978-3451305726 —

Kurzrezension: hier
Das Buch seit 2017 auch erhältlich
über die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): hier

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Ausführliche Beschreibung: Islam ist Barmherzigkeit

Mouhanad Khorchide (geb. 1971 in Beirut) ist Professor für Islamische Religionspädagogik und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie (ZIT) an der Universität Münster. Er gehört zu den bedeutendsten Islamwissenschaftlern und Koran-Interpreten der Gegenwart. Auch gelingt es ihm,
dem christlich-islamischen Dialog im Kontext östlicher und westlicher  Wissenschafts-verständnisse vertiefende Impulse zu geben.

Mehr zu Leben und Werk und Wirkung: hier


Der reformorientierte Theologe versucht mit diesem Buch,
einen positiven Akzent in die oft von Vorurteilen und Verdächtigungen geprägte
Islam-Debatte zu bringen. Denn hier wird die Basis des Islam auf ein Wort
bezogen, das jedem Koranleser in vielen Facetten erscheint: Barmherzigkeit.
Bereits jede Sure (außer der 9.) beginnt: Im Namen Gottes, des Gnädigen und
Barmherzigen! 

In
diesem Buch unterscheidet der Theologe sehr genau, was viele Muslime als
Glaubenspraxis verinnerlicht haben und was der Koran wirklich intendiert. So
wird Gott viel zu oft von Muslimen als derjenige angesehen, der Unterordnung
einfordert. 


Die so Handelnden werden belohnt, die anderen bestraft, aber in
seinem Buch lehnt der Autor solche „schwarze Pädagogik“ generell ab (S. 40ff). 





Von daher müssen auch Paradies und Hölle anders
verstanden werden: Die Hölle ist ein Nein zu Liebe und Barmherzigkeit (S.
57ff). Allerdings ist die Barmherzigkeit Gottes kein Freibrief, Unrecht zu tun
(S. 66ff). „Jeder Akt der Barmherzigkeit in dieser Welt ist eine Offenbarung
der Barmherzigkeit Gottes, denn die Barmherzigkeit Gottes >umfasst alle
Dinge<“ (S. 110). So kann Khorchide u.a. durch Berufung auf Sure 55 betonen,
dass Gott bedingungslos schenkt und damit den Weg zur Selbstvervollkommnung für
Muslime freimacht.
Nun
muss man allerdings einräumen, dass das von Khorchide vorgelegte Konzept nicht
die islamische Mehrheitsmeinung der Gegenwart wiedergibt. Aber es hat zu allen
Zeiten in der islamischen Geschichte genügend Vertreter gegeben, die Gott als
den Allerbarmer und Versöhner verkündigt haben.[1]
Das hat praktische Konsequenzen, die Khorchide im Sinne einer humanistischen
Koran-Hermeneutik
verdeutlicht. 



Zum einen ist der Koran unter bestimmten
zeitlichen Bedingungen entstanden, die man nicht einfach negieren kann. Zum
anderen muss heute Auslegung den jeweiligen Kontext berücksichtigen. Zum Dritten
muss nach dem hermeneutischen Leitmotiv für die Koran-Interpretation gefragt
werden. Sorgsame Exegese belegt, dass dies offensichtlich die Barmherzigkeit
ist. Angesichts der Mehrdeutigkeit bestimmter Koranverse, muss diese
hermeneutische Vorgabe umgesetzt werden, z.B. als strikte Ablehnung jeglicher
Gewalt gegen Frauen, im Sinne ihrer absoluten Gleichwertigkeit als Zeugen, im
Blick auf das Mindestheiratsalter und natürlich auch im Umgang mit
Andersgläubigen. Wirklich Ungläubige mag Khorchide nirgendwo erkennen. Positiv
formuliert heißt das, dass der Islam eine Religion ist, die den Menschen nicht
in ein enges Regel-Joch spannt, sondern ihn befreit, als vor und für Gott
Verantwortlicher in dieser Welt zu leben. Darum ist die Frage an die Muslime,
wenn sie auf den Koran hören: Was will Gott von den Muslimen heute?


Khorchide spricht in diesem Zusammenhang ein
erhebliches Reizthema an: Die Scharia. Man kann es nicht oft genug wiederholen
und selbst konservative islamische Vertreter stimmen ihm zu: Scharia ist kein
juristisches System, sondern der Rahmen für eine verantwortliche auf den
barmherzigen Gott ausgerichtete Lebensorientierung. Das Scharia-Prinzip heißt darum:
Gerechtigkeit (S. 119). Der Autor zeigt dies an der Differenzierung, die im
Koran selbst vorhanden ist, nämlich an den mekkanischen und medinensischen
Suren, an der Rolle Mohammeds als Gesandter Gottes und als politischen Führer sowie
Staatsoberhaupt. Genau zu beachten ist auch die Unterschiedlichkeit
juristischer und theologischer Aussagen im Koran zur Stellung der Frau. Das
Frömmigkeitsverständnis des Korans und die Glaubenspraxis bewahrheiten sich,
wenn die Würde und Freiheit des Menschen als edelstes Geschöpf Gottes gewahrt
bleibt (S. 157). Es ist ein geradezu tückisches Missverständnis, dass sich
Glaubenspraxis im Befolgen von Regeln und in Ritualen erschöpft und dafür die
Scharia bemüht wird, die faktisch ein menschliches Konstrukt ist (S. 144f).
Leider
ist es so, dass alte Diktatoren und neue Revolutionsregierungen islamischen
Glaubens eine solche humanistische auf dem Koran beruhende Haltung oft nicht
gern sehen. Man bedient sich dafür der Fatwas von Theologen, die die eigenen
politischen Ziele religiös legitimieren und Opposition gegen eine Regierung als
Widerstand gegen Gott interpretieren. Diese Art, das eigene Handeln
einschließlich der Unterdrückungsmechanismen als Gott gefällig auszugeben,
macht jeden noch so friedlichen Widerstand für die Engagierten lebensgefährlich.
Dies kann man im Gefolge des arabischen Frühlings an dem Regime in
Saudi-Arabien, den Schwierigkeiten in Tunesien, dem furchtbaren syrischen Bürgerkrieg
und den derzeitigen Unruhen in Ägypten sehen. Aber trotz aller Schwierigkeiten
lässt sich die Hoffnung auf Freiheit und Menschenwürde auch im Nahen und
Mittleren Osten auf Dauer nicht unterdrücken. Der Koran ist auf der Seite
derjenigen, die für eine gerechte und freie Gesellschaft eintreten. So schreibt
Khorchide im Sinne einer theologischen Bilanz: „Ein lebendiger Glaube ist ohne
wirkliche Freiheit nicht möglich. Ein richtig verstandener Glaube leistet
wiederum einen Beitrag zur Freiheit“ (S. 214).
Das muss auch Konsequenzen für die gegenwärtige
islamische Theologie haben: „Wir benötigen heute eine Theologie, die das
Verhältnis zwischen Gott und Mensch als dialogisches Freiheitsverhältnis
bestimmt, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit
versucht, die Liebe des Menschen und somit Mitliebende zu gewinnen. Dies ist
das Ziel der Schöpfung und Fokus von Gottes Handeln“ (S. 218). 
        


Angesichts der immer noch gängigen dogmatisch engen Auslegung des Korans wagt
Khorchide den Durchbruch zu einer menschenfreundlichen Koran-Hermeneutik. Dies
ist ein ermutigendes Hoffnungszeichen im oft polemisch belasteten
christlich-islamischen Dialog. Dieses Buch empfiehlt sich darum nicht nur für
alle am Dialog Interessierten, sondern auch gerade den Islamkritikern als nicht
zu negierende Diskussionsbasis.



Bisherige Bucherscheinungen von Mouhanad Khorchide

    2024


Mouhanad Khorchide: 
Ein Muslim auf dem Jakobsweg.

Pilgerfahrungen der anderen Art  

2022:
 Angelika Walser / Mouhanad Khorchide:

Bibel trifft Koran. 
Eine Gegenüberstellung
zu Fragen des Lebens

Herausgegeben von den Salzburger Nachrichten –
Redaktion Josef Bruckmoser

Innbruck-Wien: Tyrolia-Verlag 2022, 144 S.

Verlagsinformation mit Inhaltsverzeichnis >>>

2020 – Gottes falsche Anwälte –  

Der Verrat am Islam.             

Freiburg u.a.: Herder 2020, 256 S.     Besprechung >>>    


Weitere Veröffentlichungen und

(Medien-)Beiträge


Das KORAN-PROJEKT- erste Schritte
Gottes Offenbarung in Menschenwort – 
Der Koran im Licht der Barmherzigkeit.

Herder theologischer Koran-Kommentar. (HtKK) Bd.I . Freiburg: Herder
2018 (September), ca 320 S.

Aus der Verlagsinformation: Traditionell und doch modern: Aus der Verbindung der traditionellen islamischen Koranwissenschaft mit Methoden europäischer Geschichtswissenschaften entwirft Mouhanad Khorchide einen neuen Zugang zum Koran. Obwohl der Koran als geoffenbartes Gotteswort gilt, wird er zugleich als historisch gewordener Text verstanden. Dieses Aufeinandertreffen scheinbar sich widersprechender Methoden ist Thema des Eröffnungsbandes des HthKK, in dem Mouhanad Khorchide neben dem aktuellen Forschungsstand den eigenen hermeneutischen Ansatz erarbeitet und sein eigenes methodisches Vorgehen beschreibt. 

Editionsplan, Bd. II – XVII

II.       Scharia im Koran
III.      Propheten im Koran I 
IV.      Eschatologie und jenseitige Vorstellungen des Korans 
V.       Das Frauenbilder des Korans 
IV.      Eschatologie und jenseitige Vorstellungen des Korans 
VI.      Propheten im Koran I
VII.     Verhältnis des Islams zu Nichtmuslimen im Koran 
VIII.    Schöpfung im Koran 
IX.      Gewalt im Koran 
X.       Das Gottesbild des Korans 
XI.      Das Menschenbild des Korans 
XII.     Frömmigkeit und Ritus im Koran
XIII.    Ethik im Koran
XIV.    Muhammad im Koran 
XV.    Jesus und Maria im Koran
XVI.   Herders Koran-Kommentar I (Kurzfassung) 
XVII.  Herders Koran-Kommentar II 
Reinhard Kirste

Rz-Khorchide-Islam



[1]  Wesentliche Vorarbeit hat hier der Kölner Islamwissenschaftler
Abdoldjavad Falaturi (1926-1996)
geleistet.
Vgl. dazu seinen Beitrag: Der Islam – Religion der rahma, der Barmherzigkeit. In: A. Falaturi: Der Islam in Dialog.
Hamburg: Islamwissenschaftliche Akademie 1996, 5. Aufl., S. 98-120
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