Nevfel Cumart / Ulrich Waas: Orient – Okzident ——– kulturelle Bereicherung durch Begegnung (aktualisiert)

Nefvel Cumart / Ulrich Waas: 
Orient und Okzident  
 die andere Geschichte. 
Das Fremde als kulturelle Bereicherung. 
Buchreihe der
Georges-Anawati-Stiftung, Bd. 14. 

Freiburg/Br. u.a.: Herder 2017, 240 S.
 
— ISBN 978-3-451-37884-3 —



InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats September 2017

Die
beiden Autoren sind von ihrer Herkunft und ihren Studien her mit dem Thema
vertraut:
Nevfel Cumart (geb, 1964)
hat als Sohn türkischer Einwanderer Orientwissenschaften studiert und arbeitet
als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist.
Ulrich Waas (geb. 1947) ist gewissermaßen ein Quereinsteiger, denn
er war bis zu seiner Pensionierung für Sicherheitsfragen in Atomkraftwerken
zuständig. Er arbeitete sich intensiv besonders durch Kulturreisen in die
Geschichte Anatoliens ein.

Die Georges Anawati-Stiftung hat diesen Band herausgegeben. Ihre Intentionen zielen
darauf ab, das gegenseitige Verständnis von Christen und Muslimen besonders zu
fördern: 

Die Autoren widmen das
Buch
Semiya Simsek. Ihr Vater Enver Simsek wurde im September 2000 das erste Opfer
in der Mordserie des rechtsradikalen, terroristischen Nationalsozialistischen
Untergrunds (NSU). In ihrer Rede im Februar 2012 angesichts der Morde des NSU und
in ihrem Buch  Schmerzliche Heimat  (2013) spiegelt
sich das Leiden ihrer Familie. Es ist ein Skandal, dass die Opfer als Täter
verdächtigt wurden!  Das hat die Autoren
motiviert, das Verbindende von Morgenland und Abendland in der Geschichte zu
betonen.


Trotz aller
Missverständnisse und nicht aufhörender Konfliktserien „Ost gegen West“ und
„West gegen Ost“ gelingt es den Autoren, ein Bild der Hoffnung zu zeichnen. Das
ist der Schwerpunkt in Kapitel 1.
Die Vorstellungen der Extremisten auf beiden Seiten und die negativen
Wahrnehmungen des Islam („Kampf der Kulturen“) bis in die Gegenwart werden
keineswegs ausgeblendet. Vielmehr geht es in der Fortführung von Goethes Blick
auf den Orient darum, respektvolles gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. So
entsteht eine west-östliche Religions- und Kulturgeschichte von der Steinzeit
bis ins 20. Jahrhundert. Es ist ein guter Überblick, der die wesentlichen
Epochen und Brennpunkte sachgemäß und verständlich beschreibt.
In Kapitel 2-4 erfolgt dann eine genauere
Differenzierung im Blick auf den Kulturtransfer
von Ost nach West
, und zwar aufgegliedert in folgende Epochen: Hellenismus,
Römisches Reich, Aufstieg des Christentums, das sog. Goldene Zeitalter des
Islam zwischen 800 und 1100 und das Heraufkommen der Turkvölker. Das Kapitel 5 verweist auf den Vorsprung der islamischen Kultur im
Hochmittelalter
, besonders in den Naturwissenschaften. Mit dem Kapitel 6 und 7 kommt neben dem osmanischen Imperialismus auch der des
Abendlandes zur Sprache. Machtverschiebungen unterschiedlicher Art führen
schließlich zum Niedergang des Osmanischen Reiches.
Mit Kapitel 8 beginnen Rückblicke und
gegenwärtige Reflexionen gleichermaßen. Angesichts der Quellenlage und
genauerer Untersuchung der islamischen Anfänge lassen sich reichlich klischeehafte Vereinnahmungen oder
Abwertungen
aufdecken. Die Autoren betonen dann in Kapitel 9 die Flexibilität
koranischen Verständnisses
sowie im Handeln des Propheten Mohammed. Sie
verweisen auch auf die Wertschätzung Jesu im Islam und die Betonung der Vernunft
(S. 161ff, 151ff). Das Kapitel 10 geht
den gegenseitigen Abgrenzungen sowie den christlichen
und islamischen Vorurteilen
bis in die Gegenwart nach: Der heutige islamistische
Terrorismus hat die Reformversuche des 19. Jahrhunderts und das
Salafiyya-Verständnis eines Mohammed Abduh und eines Dschmal ad-Din al-Afghani
geradezu fanatisch karikiert (S. 113ff). Das verschärft die Schwierigkeiten
heutiger Ost-West-Begegnung zusätzlich, wie Kapitel 11 zeigt.
In Kapitel 12 versuchen die Autoren, eine dialogfähige Bilanz zu ziehen, indem
sie Wege für eine fruchtbare interreligiöse Begegnung aufzeichnen, und zwar durch
Vernunft und Ablehnung von zweierlei Bewertungsmaßstäben. Die positiven Seiten
des „Anderen“ lassen zugleich zukunftsorientierte Möglichkeiten aufscheinen.
Die Autoren sprechen insgesamt viele Aspekte einer Ost-West-Geschichte im
Kontext des Islam an. Sie war und ist nicht nur (religiös) konfliktgeladen,
sondern auch  von enger kultureller
Verbundenheit geprägt. Einige Brennpunkte seien herausgehoben:  
  • Islamische Aufbrüche in Bagdad und Toledo sowie
    Kaiser Friedrich II.
    in seiner Funktion als Brückenbauer (S. 54f und 66f).
  • Das Osmanische Reich mit seinen
    christlichen Verbündeten
    (!), also kein Kampf Ost – West, sondern oft
    seltsame Realpolitik. Man denke an die Anti-Kaiser-Koalitionen und die
    preußische Türkenpolitik (S. 104).
  • Seit
    dem hohen Mittelalter fällt eine zunehmende
    Dogmatisierung
    des Islam auf (besonders Ibn Taimiyya im 13./14. Jh.) gegen
    die immer wieder Aufklärer als flexible Ausleger von Koran und Sunna auftreten.
  • Der Koran und die Gewalt: Die Autoren
    reden die problematischen Korantexte nicht klein, die angesichts der Sure 5,32
    und einiger weiterer Stellen zu ausgesprochen „grenzwertigen Kommentaren“
    führen. Das betrifft nicht nur fundamentalistische islamische Theologen (S.
    142ff).

In Erinnerung an die
Mu‘taziliten 
mit ihrer Betonung der Rationalität ist es darum besonders wichtig, die Debatte um den Idschtihad im Sinne eines offenen Tors der Auslegung neu ins Spiel
zu bringen
(S. 152–155). Das haben Autoren wie Kermani, Abu Zaid und Khorchide
bereits getan. Auch aus Franz von Assisis friedlichen Orient-Begegnungen lässt
sich gegenwärtig viel lernen. Die einzige Chance scheint nämlich zu sein, dass
„man den Weg zu einer glaubwürdigen Verständigung zwischen der Mehrheit bzw. ihren
Repräsentanten in Abendland und Morgenland findet“ (S. 226). Stolpersteine auf
diesem Weg dorthin gibt es allerdings genug! Dass jedoch ein Muslim und ein
Christ gleichermaßen und einhellig betonen, dass ein politisches und
theologisches Umdenken großen Stils notwendig ist, signalisiert zumindest
Hoffnung für einen Frieden der Kulturen und Religionen, der herstellbar ist.
Reinhard Kirste


Rz-Cumart-Orient-Okzident, 31.08.17