Niklaus von Flüe – ein „anstößiger“ Heiliger – Kommentare und Literaturauswahl (aktualisiert)

Coverbild: Brunnenfiguren
von Hugo Imfeld (1916-1993)
in Stalden (Obwalden)

Roland Gröbli,
Thomas Wallimann-Sasaki

Heidi Kronenberg, Markus Ries (Hg.):

Mystiker, Mittler, Mensch.
600 Jahre Niklaus von Flüe.

Vorwort von Charles
Morerod,
Gottfried Wilhelm Locher.



Zürich: TVZ 2016,  388 S., Abb.
— ISBN 978-3-290-20138-8 —

Buch des Monats Januar 2017
der InterReligiösen Bibliothek (IRB)



Der 600.
Geburtstag des berühmten Schweizer Einsiedlers Niklaus von Flüe prägt das Jahr 2017 mit vielen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Mehrere Titel
sind schon seit einiger Zeit auf dem Markt (s.u.). Der TVZ-Verlag hat eine
offizielle Gedenkpublikation herausgebracht, die der
Trägerverein 600 Jahre Niklaus von Flüe und die Bruder-Klausen-Stiftung (Sachseln am
Sarner See, Zentralschweiz) in die Wege leitete.
Diesen Band haben
zusammengestellt: 

Dr. phil. Roland Gröbli , Präsident des wissenschaftlichen
Beirats «600 Jahre Niklaus von Flüe» , Heidi Kronenberg,  Journalistin und Redakteurin im Bereich
Gesellschaft/Religion, Prof. Dr. Markus Ries, Prorektor, Professor der
Theologischen Fakultät der Universität Luzern, Dr. theol. Thomas
Wallimann-Sasaki, Leiter des Sozialinstituts KAB Schweiz, unabhängiger Theologe.

Die 60
Autorinnen und Autoren kommen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen
Bereichen: Christliche und islamische Theologen verschiedener Richtungen,
Historiker, Politiker, Sozialpädagogen, Lehrer, Sachbuchautoren, Journalisten, Künstler
sowie Frauen und Männer mit eigenständiger spiritueller Praxis.

Diese
Vielfalt ist bereits ein Zeichen dafür, dass Niklaus von Flüe (1417–1487)
offensichtlich nichts von seiner spirituellen Faszination verloren hat. Es ist
fast eine Art ökumenischer Heiligenkult, der sich hier entwickelt hat.

Niklaus als frommer Asket blieb auch nach seiner regional-politischen
Karriere  ein Botschafter des Friedens. Vgl. Flüeli-Ranft:
http://www.flueliranft.ch/#bruder-klaus


Nicht zu unterschätzen
ist in diesem Zusammenhang seine Frau Dorothee Wyss:
http://www.bruderklaus.com/?id=553. Sie trug den Entschluss ihres
Mannes im Jahre 1467 in erstaunlicher Weise mit – auch gegenüber Anfeindungen: Sie sagte damit JA – am Anfang zu seinen Ämtern, dann zu seinem Beten und Fasten. Es war eine JA zu
seinem durch Visionen geprägtes, oft seltsames Verhalten – JA zu seinem Ringen mit
Gott und damit auch JA zu seinem Leben als Eremit.

Im Stile des
berühmten Radbildes von Bruder Klaus teilt sich das Buch
in 6 „Speichen“ (= Abschnitte), die
das Wesen und die Wirkungsgeschichte dieses intensiven Gottsuchers beschreiben.
Die Texte konzentrieren sich auf sein oft extremes (mystisches) Erleben zwischen Abgeschiedenheit, ekstatischer
Vision und Dienst am anderen. Verehrung dieses „Heiligen“ und wissenschaftliche
Erforschung einer herausragenden Persönlichkeit stehen sich dabei nicht im
Wege, wie die 6. Speiche zeigt. 



Die Herausgeber haben dieses Gedenkbuch in den Dreiklang von  Mystiker, Mittler, Mensch gestellt. Darum kann Roland Gröbli resümieren: „Niklaus von Flüe gehört bis heute zu den wirkungsmächtigsten Leitfiguren der Schweiz. Er ist ein Vorbild in Mystik und Spiritualität, Gesellschaft und Politik sowie als Mensch mit seinen Stärken und Schwächen“ (S.40).

Die Vielfalt dieses umfangreichen Bandes mit einigen thematischen Überschneidungen lässt sich in wenigen Worten einer Besprechung nicht nachzeichnen. Deshalb seien aus den einzelnen „Speichen“ hier diejenigen Schwerpunkte hervorgehoben, die die Weite und Ungewöhnlichkeit des Denkens, Fühlens und Handelns ausdrücken.“



Speiche 1: Dialog (S. 43–96)



als gesellschaftliche Herausforderung und
Chance. Angesichts der Unehrlichkeiten des politischen Systems, der Frage nach
Gottesrecht und Menschenrecht  scheint
Niklaus‘ Weggang aus dem Oberwaldnerland (sogar mit Zustimmung seiner Frau
Dorothee) auch eine Flucht ins Religiöse zu sein (
Thomas Wallmann-Sasaki, S. 44 und Klara Obermüller, S.51). Die BeiträgerInnen des Buches kommen darum
immer wieder – und völlig zu Recht – auf die Bedeutung der Ehefrau Dorothee für
die spirituelle Entwickung ihres Ehemanns zu sprechen. Insgesamt darf aber nicht
vergessen werden, dass Bruder Klaus sowohl durch seine beachtlichen Versuche
des gesellschaftlichen Konflikt-Schlichtens als auch durch sein konsequentes
spirituelles Leben faktisch zu einem Friedensheiligen geworden ist (
Cornelio Sommaruga, S. 61ff / Guido Baumgartner, S. 68-72). 






Speiche 2: Verehrung (S. 99–164). Hier
geht es weniger um die Selig- und dann Heiligsprechung des Niklaus von Flüe
(1947) als vielmehr um die Motive seiner weiterwirkenden Verehrung. Das dürfte
nicht nur eine Schweizer Besonderheit sein. Die Autoren erzählen, wie sie
Bruder Klaus heute begegnen: 



  • Durch die Wanderung in die Ranft zur Einsiedelei
  • durch nachdenklich machende spirituelle Begegnungen
  • im Museum Bruder Klaus  in der „zuständigen“ Ortsgemeinde Sachseln
  • durch Elemente der Verehrung im
    Tessin
  • durch den Weg zur Wachendorfer Kapelle (Eifel)
  • durch Friedensprojekte
    an verschiedenen Orten:
     in Indonesien, Israel/Palästina, Costa Rica,
    Österreich und im Libanon –  
    in Verbindung mit Charbel Makhlouf (1828-1898)
Speiche 3 behandelt die Religion
(S. 167–206) aus der Sicht verschiedener christlicher Konfessionen, Religionen
und im Zusammenhang seiner Friedensaktivitäten. Es ist spannend zu sehen, wie
man die sog. „Vorhersage der Glaubensspaltung katholisch und reformiert
gleichermaßen für die eigenen – Zwecke benutzte (S. 169 f). Davon ist heute nichts
mehr zu spüren, vielmehr hat Niklaus von Flüe auch islamische Hochachtung
gewonnen, was besonders mit seinen Friedensaktivitäten innerhalb der Eidgenossenschaft
zusammenhängt. Dieser Friedenswille führte Niklaus auch 1481 aus der
Einsiedelei heraus nach Stans, um dort einen Konflikt zwischen verschiedenen
eidgenössischen Parteien betend und redend beizulegen. Das erinnert die Islamwissenschaftlerin  Rifa’at
Lenzin
an den irakischen Ayatollah
Ali al-Sistani
(geb. 1930), der 2004 ein Blutvergießen in Najaf (Südirak)
verhinderte. Insgesamt rückt Bruder Klaus in den Horizont von Mahatma Gandhi
und Martin Luther King (S. 176). Persönliche asketische und heitere Spiritualität
einerseits und Friedensarbeit andererseits gehören offensichtlich zusammen. Es
wird aber auch an die dunklen Stunden und Erfahrungen des Scheiterns im Leben
von Bruder Klaus erinnert, die seinen besonderen Weg begleiten. Beeindruckend
bleibt bei all seinen Bemühungen der konsequent friedliche Weg, der auch den
Rechtsverzicht möglich macht – eine bewusst christliche Option. Darauf verweist
Guido Estermann von der Pädagogischen
Hochschule Schwyz (S. 205f).


Speiche 4: Mystik (S. 209–244) spricht das Thema an, das viele zuerst ins
Zentrum des Verständnisses von Bruder Klaus stellen (würden). Die hier
versammelten Beiträge beziehen Schwerpunkte mit ein, die die vielfältige
Spiritualität in ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Wirksamkeit zum
Ausdruck bringen: Stille, Zwiesprache und Offenheit für Gott, Radikalität und
Freundlichkeit, Mystik und Politik. Der evangelische Pfarrer Christoph Hürlimann zeigt die visionären
Orientierungspunkte für den Weg des Niklaus von Flüe, die durch die Zeit seiner
persönlichen Krise geprägt sind: „ … der Aufbruch als Pilger am St. Gallustag (dem 16. Oktober), die nächtliche Erfahrung
von Liestal … wenige Tage später die Rückkehr in die engste Heimat und
schließlich seine Niederlassung im nahegelegenen Ranft als Eremit“ (S. 213). Der Jesuit Christian
M. Rutishauser
  hebt dieses Paradox
von abgeschiedener Meditation und Aktion besonders heraus (S. 226ff). So kann
man mit dem Priester Nicolas Butter
nicht nur von der „heiligen Narrheit“ im Befolgen des Evangeliums reden,
sondern auch von der Kraft des Gebets, die zu politischen Veränderungen führen kann.
In manchem erinnert gerade dieser Abschnitt auch an die politische Theologin
und Mystikerin  Dorothee Sölle
(1929–2003), die mit ihrem Leben dieses Paradoxon von Mystik und Widerstand zum
Ausdruck brachte   



(vgl. ihr Buch. „Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei“. München: Piper
1999).


Dass Bruder
Klaus viele Wirkungen in der Malerei (z.B. vom Radbild bis zum  Hungertuch), im Film, im Theater und in der Musik
hervorgebracht hat, beschreibt die Speiche
V: Kunst
(S. 247-282). Man denke nur an die starke mit Bruder Klaus
verbundene Symbolik von Kreuz, Rad und das Jetzt
als Kreuzungspunkt von Zeit und Ewigkeit. Der Medienwissenschaftler Charles Martig merkt an, dass im Bereich
der Kunst diese spirituelle Persönlichkeit oft beeindruckend, aber auch
missverständlich dargestellt wird.


Schließlich
kommt in
Speiche 6 die Wissenschaft (S. 285–372) zum Zuge. Nun
gibt
Markus Ries (Universität Luzern)
zu bedenken, dass Gewaltfreiheit  im
Mittelalter kein Wert an sich war (S. 291). 
Die Mahnungen  zum Frieden von
Mailand und das Engagement von Bruder Klaus bei weiteren innerschweizerischen
Auseinandersetzungen (alle  zwischen 1480
und 1483 formuliert) wurden in den
geschichtlichen Beschreibungen des 15./16. Jahrhunderts nicht genügend gewürdigt. 



Aber man erinnert sich wieder an diesen Friedensstifter in den konfessionellen
Spaltungskonflikten des 16. Jahrhunderts. Und natürlich muss auch Wilhelm Tell
ins Spiel gebracht werden. Der Historiker und herausragende Niklaus-Biograf
Pirmin Meier bezieht sich in seinem
Beitrag auf den Landschreiber Hensli Schriber aus Obwalden (15. Jh.). Meier zeigt
ausführlich im Horizont der „kalten Räte der Frauen“ und den „heißen Ratschlägen
der Männer“, welche Spannungen die innere Schweiz zu jener Zeit erschütterten. So
werden Wilhelm Tell und Niklaus von Flüe quasi zu zwei Symbolgestalten, zu „
Polen“, zwischen denen die eidgenössischen Werte von Frieden und Freiheit oft
unter höchst widrigen Umständen umgesetzt wurden. Aber Bruder Klaus hatte neben
seinen Ratgeberqualitäten und Friedensimpulsen noch etwas Unheimliches
„anscheinend Verrücktes“. „Sobald man
diesen schlichten Klaus von Flüe packen und wie zu allen Zeiten für
irgendwelche Zwecke beanspruchen will, verflüchtigt er sich, ehe man es
bemerkt“ (S. 307). Dass „Zäune“ im späteren Verständnis von  Bruder Klaus eine wichtige
Interpretationsrolle spielen, beschreibt der Berner Historiker und Politiker
Josef Lang auf dem Hintergrund der dem
Einsiedler zugeschriebenen Äußerung, „man solle die Zäune nicht zu weit“ machen.
Gemeint sind nationale, soziale und polizeiliche Zäune, die in der Reformationszeit
und Nachreformationszeit bis in die Nationalismen des 20. Jahrhunderts eine
große Rolle spielten. Die Wirkung dieses Wortes zeigt Schwierigkeiten, Bruder
Klaus politisch einzuordnen. Dadurch werden Herrschende und Beherrschte,
Konservative wie Liberale gleichermaßen in Frage gestellt.


Verschiedenartige
Themen folgen: Der Musikwissenschaftlers Angelo
Garovi
 untersucht den Bruderklausen-Gesang
von 1488 ­– vom spätmittelalterlichen Choral zum reformierten Kirchenlied. Anschließend
bespricht der Abt Urban Federer die
ritualisierte Erinnerung von Bruder Klaus in Einsiedeln. Er erweitert sie um einige
ökumenische „Vorblicke“. Überhaupt: Bruder Klaus und die Protestanten: Schon zu
Lebzeiten wurde er gewürdigt und je nach religiöser Position vereinnahmt,
obwohl der „Heilige“ unerschütterlich katholisch blieb. So reagiert auch die Geschichtsschreibung
bereits im 16./17. Jahrhundert entsprechend, mit weiteren historischen
„Inszenierungen“ im 18./19. Jahrhundert (S. 327f). Kulturkampf, Klassenkampf
und Heiligsprechung, dies alles durchläuft die geschichtliche Sicht auf Bruder
Klaus. Der Historiker Hannes Steiner
mahnt deshalb, die vorreformatorische Geschichtsschreibung ernster zu nehmen (S.
330f). Katholischerseits spielen natürlich die „Wunder“ des Einsiedlers,
besonders in der Frömmigkeitskultur des 17./18. Jh.s mit den
Klaus-Reliquien  eine große Rolle. 



Die z.T.
politisch vereinnahmte „Heiligenverehrung“ prägt das katholische Milieu
zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg. Der „inoffizielle Schutzpatron“ mit seinen
Kultstätten in der Zentralschweiz bleibt eine „polyvalente Erinnerungsfigur,
Mythos und Faszinosum“, wie der Historiker
Urs
Altermatt
schreibt (S. 343–355). 



Immerhin haben sich inzwischen viele
Kirchen und Kapellen der Schweiz unter dem Patrozinium des Bruder Klaus zu
Orten der Meditation und Andacht auch für kirchlich Fernerstehende entwickelt,
besonders nach der Heiligsprechung 1947 (so der Theologe
Urban Fink-Wagner).


Ein Resümee
für das Gedenkjahr wird im Schlussabschnitt
„Mehr Ranft“
gezogen (S. 374-380): Gedenken als Anstoß für Projekte und
Initiativen auf den verschiedenen Ebenen: Bruder Klaus als Impulsgeber für tiefe
menschliche Werte, echte Begegnungen und Bescheidenheit.
Bilanz: Vermutlich ist es gerade diese „Mischung“ bei Niklaus
von Flüe, die seine Faszination bis heute ausmacht: Sie zeigt sich in seinem
(extrem) visionären Wesen, Denken und Glauben einerseits und in seiner
spirituell geprägten politischen Wirksamkeit andererseits. Von daher scheint
sich die Motivation zu speisen, die Menschen unterschiedlicher Herkunft
veranlasst, ihn als Vorbild zu nehmen – in der innigen Verbindung von einem
meditativen, einfachen, geheimnisvollen Leben und gesellschaftlicher
Verantwortung. Ein anschauliches und zugleich spannendes Buch, das viele
historische Zusammenhänge ausleuchtet und zugleich in den Berichten viele
persönliche Erfahrungen der Autoren durchscheinen lässt.
Alle Beiträge des Gedenkbuchs
«Mystiker. Mittler. Mensch», die aus dem Französischen oder dem Italienischen
übersetzt worden sind, können im Original heruntergeladen werden. Darüber
hinaus enthalten beide Büchlein weitere grundlegende Beiträge aus der offiziellen
Gedenkausgabe.





Meditieren mit Nik(o)laus von Flüe: Die Kapelle in Wachendorf (Eifel) 

Reinhard Kirste
Rz-Niklaus-Flüe-600
Jahre, 2017 und weitere Bearbeitungen 



Lizenz: CC 



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