Nandi: M/Other India/s.
Kastenproblematik
muttersprachlichen indischen Literatur seit 1935. Anglistische
Forschungen Bd. 377.
298 S.
(gleichzeitig Diss. Universität Freiburg/Br.)
hinein dieses Buch geschrieben ist. Die Zeit des Kolonialismus ist vorbei, und
postkoloniale Theorien über Indien und besonders angesichts der Reizworte
Kasten Armut, Orient zeigen eine Mischung aus Sehnsucht und Arroganz auf. Aber
gerade die inner-indische Kritik nimmt im Spannungsfeld des anglisierten,
intellektuellen städtischen Indien und der bitterarmen Landbevölkerung des
„anderen Indien“ zu. Mit eigenem indisch-biografischen Hintergrund recherchiert
und analysiert die 1974 geborene Verfasserin postkoloniale Literaturtheorien.
In ihrer klar gegliederten
Dissertation, in die sie prägnant ausgewählte Literaturbeispiele (nur Prosa)
eingefügt hat, arbeitet sie ein Stück weit die postkoloniale Ambivalenz auf,
die Indien prägt. Sowohl in der englischsprachigen wie in der
muttersprachlichen indischen Literatur des 20. Jahrhunderts (im Übergang von
der Britischen Kolonie zur Unabhängigkeit und danach) zeigt sich diese
Problematik, die damit zusammenhängt, dass zum einen die Mittelschicht in einem
Lebenshorizont zu Hause ist, der immer noch durch die teilweise seltsame
Hochachtung vor dem ehemaligen Kolonialherrn geprägt wird und zum anderen die
Kastenlosen und damit auch die Dalit-Literatur außer acht lässt. Hier schlägt
Miriam Nandi eine Schneise. Das Übrigbleiben des „Vaters“ und der Verlust von Mutter Indien hängt offensichtlich mit
der hegemonialen Kolonial-Kultur und dem Problem der Subalternität zusammen
Nandi stützt sich dabei . auf die Post-Kolonialismustheorien von Jacques Lacan
und Homi Bhabas und deren Verständnis des Anderen – mit Rückbezug auf J.
Derrida. Unbestritten, aber oft recht zwiespältig taucht das „andere Indien“
(M-other India) zwischen Unterdrückung und Widerstand auf – u.a. beispielhaft
an den Dalit-Bewegungen und der Konversion Bhimao Ambedkars auch in der Auseinandersetzung
mit Gandhi (S. 98ff) dargestellt.
eine Reihe von Beispielen aus der indischen Literatur heran,
SchriftstellerInnen, die auch in Europa teilweise sehr bekannt wurden und für
ein westliches Publikum offensichtlich auch durch die Mischung aus Exotik und
Sozialkritik hohe Attraktivität gewannen und gewinnen, wie die Indien-Veranstaltungen
beispielsweise rund um die Frankfurter Buchmesse 2006 zeigten. Es sind
Prosatexte indischer Autoren, die entweder englisch schreiben oder deren
Muttersprache eine der indischen Hauptsprachen ist. Es kann hier nicht auf die
einzelnen Literaturbeispiele eingegangen werden, es seien nur einige Namen und
Titel genannt, auf die Nandi ausführlich eingeht: Mulk Raj Anand (Untouchable), U.R. Ananatha Murthy (Samskara), Mahasveti Devi (Draupadi), Arundathi Roy (The God of Small Things) und Shasi
Deshpandi (The Binding Vine). Aber
sie berücksichtigt auch Vikram Seth (A
Suitable Boy), Vikram Chandra (Shakti),
Salman Rushdie (Midnigh’s Children) sowie Amitav
Gosh (The Hungry Tide).
angesichts der vielfältigen Umbrüche auf dem indischen Subkontinent, dass die
Theorie der “postkolonialen Ambivalenz“ geradezu ein hermeneutischer Schlüssel
für das Verständnis anderer postkolonialer Literatur (nicht nur in Indien) sein
kann. Für Indien aber gilt, dass das Andere Indien „aus dem Diskurs des
Postkolonialismus nur scheinbar verschwunden“ ist – „als phantasmatische(s)
M/Other India, als Objekt der Sehnsucht und der Angst, sucht es die indische
Literatur immer wieder auf unheimliche Weise heim. Das ‚wirkliche’ Andere Indien
bleibt damit freilich unerreichbar.“ (S. 278). Solange also die soziale Kluft
und die weiter bestehenden Kastenideologien die literarischen Diskurse prägen,
schwankt das Indienbild zwischen dem „kolonialen Vater“ und den „vorkolonialen
Mutter“, und beides will nicht zusammenkommen (vgl. bereits S. 21). Die
Problematik scheint sich weiter zu verschärfen, wenn der kritische
Intellektuelle zum Fürsprecher des subalternen Anderen werden will (S. 22).
Hochloben subversiver literarischer Kritik noch um die Auseinandersetzung mit
nationalistischen Fantasien. „Aus der Sicht der Theorie der postkolonialen
Ambivalenz ist auch engagierte Literatur letztlich Teil eines postkolonialen
Identitätsdiskurses, in dem es einerseits um Abgrenzung von den kolonialen
Patriarchen, andererseits jedoch um das brüchige Verhältnis zwischen
anglisierten Intellektuellen und ihrem ‚subalternen’ Anderen geht (vgl. S.
274f). Sie hat ebenfalls deutlich gemacht, wie problematisch Projektionen des „Anderen“
sind: So positiv das „andere Indien“ hervorgehoben wird, so schnell macht sich
auch die dunkle Seite dieses Anderen breit. Als ein vermutlich „typisch“ westlicher
Leser bleibt der Rezensent ausgesprochen nachdenklich zurück, und in die
Faszination der Extreme mischen sich die Fragen, welchen Weg Indien wohl in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen und wie das „Real India“ wohl aussehen wird.
Kirste