Annette Wilke / Robert Stephanus / Robert Suckro (eds.):
Constructions of Mysticism as a Universal. Roots and Interactions Across Borders.
Studies in Oriental Religions Vol. 71
Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2021, 503 S.
Print – ISBN 978-3-447-10785-3
E-Book (pdf) – ISBN 978-3-447-19629-1
Der Sammelband basiert auf einer internationalen interdisziplinären Tagung des Exzellenz-Clusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 2013. Deren um abrundende Beiträge erweiterte Dokumentation verzögerte sich durch schwere Krankheit der Mitorganisatorin Annette Wilke. Ihre religionswissenschaftliche Einführung (1-26) erläutert die zugrunde gelegte neue Perspektive der Cultural Studies of Religion, die nach Mystik als einer universalen, transkulturellen Kategorie fragt. Dabei geht es um
a) das Potential der Mystik seit den neuplatonischen Anfängen,
europäische Grenzen zu überschreiten,
b) die Geschichte der Mystik-Forschung in ihren Kontexten und
c) die Absorption östlicher Religionen durch universale Mystik.
Für die Beiträge konnte keine gemeinsame Definition von Mystik gefunden werden. Stattdessen zeigte sich die Bedeutung der forschungsgeschichtlichen Ansätze in den im 20. Jh. neu entwickelten Disziplinen Psychologie (William James), Soziologie (Max Weber, Georg Simmel, Ernst Troeltsch), Religionsgeschichte und -phänomenologie (Edvard Lehmann, Rudolf Otto, Mircea Eliade) und Wissensphilosophie (Max Scheler). Von mir wurden parallel dazu solche Überlegungen aus meinen frühen Publikationen „Neuplatonische und gnostische Weltablehnung in der Schule Plotins“ (Berlin 1975) und (als Hg.) „Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer, soziologischer und psychologischer Interpretationsansätze“ (München 1975) einbezogen in mein Buch zur Wirkungsgeschichte der platonischen Interpretation der Chaldäischen Orakel „Mystik in der Globalisierung“ (Berlin 2017 – Rezension > ).
Der vorliegende Band versteht so im Sinne der „Social Construction of Reality“ von Peter Berger und Thomas Luckmann Religion und Mystik als diskursive Formationen, die von historischen, soziokulturellen und individuellen Kontexten abhängen. Dabei bezieht er sich auf die religiöse Geschichte als Konstruktion erster Ordnung und auf die Forschungsgeschichte als Konstruktion zweiter Ordnung (samt ihren Verschränkungen wie bei Buber, Lossky, Eliade).
Der Liste der Autor*innen und Editor*innen (467-473) folgen Personalindex (476-480)
und Sachindex (481-503).
Teil I „Europäische Wurzeln und Konstruktionen“ (27-113) wird eingeleitet vom einzigen Beitrag zur Mystik in der Spätantike, in dem die international zu diesem Gebiet lehrende Ilaria Ramelli einen Überblick gibt zu „Mystik in Mittel- und Neuplatonismus in Judentum, ‚Heidentum‘ und Christentum“: Es geht um die griechische Begrifflichkeit antiker Mysterienkulte und der Mysterien des einzigen Gottes in den biblischen Büchern von Septuaginta und Neuem Testament. Beide Traditionen werden beim platonisch gebildeten Kirchenvater Clemens von Alexandria verbunden. Ramelli thematisiert das mystische Schweigen für den Juden Philo, den ‚Heiden‘ Plotin und die Christen Origenes, Gregor von Nyssa und Euagrius. Sie alle standen in einer platonisch-religionsphilosophischen Tradition und gingen mit ihrer unterschiedlichen Religionszugehörigkeit davon aus, dass die Gottheit nicht in ihrer Natur, sondern nicht anders als in ihren Wirkungen erkannt und darüber hinaus nur mit Teilhabe am göttlichen Leben mystisch erfahren werden kann, wobei sich Schweigen und Reden, apophatische und kataphatische Theologie ergänzen (29-53).
Der durch Publikationen zu mittelalterlicher Mystik bekannte Literaturhistoriker Niklaus Largier diskutiert für christliche Traditionen bis zu spätmittelalterlichen Theorien mystischer Theologie die Möglichkeit, „Mystik“ im Sinne eines ausgefeilten Gebrauchs rhetorischer Mittel zu verstehen, die intensive Zustände von kognitiver, affektiver und sinnlicher Erfahrung hervorrufen sollen. Largier orientiert sich dabei am mittelalterlich-christlichen Verständnis von Mystik als cognitio Dei experimentalis. Die schon im 4. Jh. mit dem „Leben des Moses“ von Gregor von Nyssa berühmt gewordene mimetische Praxis zeigt das menschliche Verlangen, eins zu sein mit dem unfassbaren Göttlichen. Niemals ist das Verlangen mit der imaginierten göttlichen Gegenwart eins, materialisiert sich aber in Kontemplation und Liturgie, besonders mit Figurationen und Psalmodie und Anregung der Gefühle durch das Hohe Lied der Heiligen Schrift (55-66).
Die Bonner Religionsphilosophin Saskia Wendel schreibt über religiöse Autorität und Empowerment in Mystik-Konzepten von Frauen: Mystisches Wissen ist intuitiv in einer Identität von Liebe und Wissen, und deshalb ist jedes Menschenwesen fähig, Gott tief in sich zu erkennen, so dass jede Person gleich ist in ihrem Wissen um Gott – mit ihrem eigenen Weg zu Gott durch diese unmittelbare Gegenwart des Göttlichen (67-76).
Anett Martini, Spezialistin für christliche Kabbala, jüdische Mystik und mittelalterlich-frühneuzeitliche Philosophie macht auf einen faszinierenden Kulturtransfer von der jüdischen Tradition in den christlichen Kontext des Renaissance-Gelehrten Pico della Mirandola aufmerksam: Den leistete der konvertierte Jude Flavius Mithradates alias Raimundo Moncada, indem er 1486 die wichtigsten Schriften jüdischer Mystik – Tausende von Folios – aus dem Hebräischen ins Latein übersetzte. Pico war der erste, der sich so umfänglich auf jüdische Mystik als ein Vehikel der „einen universalen Wahrheit“ bezog. Allerdings verschwand seine Kabbala-Bibliothek wohl schon 1489 beschlagnahmt für Jahrhunderte in der Vatikanischen Bibliothek (77-100).
Teil I schließt damit, dass Mark Sedgwick, Islamwissenschaftler in Aarhus, „Sufismus und die westliche Konstruktion von Mystik“ erörtert und dabei auf das extrem wichtige neuplatonische Element im Sufismus aufmerksam macht (101-113).
Teil II versammelt vier Beiträge zur Mystik-Renaissance nach der Aufklärung
im Übergang vom 19. zum 20. Jh.:
Dirk Johannsen, Kulturhistoriker in Oslo, zeigt, wie Mystik erneut im Literaturbetrieb der nordischen Länder hoch geschätzt wurde: als das Herzstück von Okkultismus und von ethnischen Mentalitäten, die der dänische Religionsgeschichtler Edvard Lehmann 1904 als einer der ersten religionsphänomenologisch thematisierte (117-136).
Der Bremer Religionswissenschaftler Christoph Auffarth setzt bei der Bezugnahme von Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ auf die Franziskanerspiritualen um Joachim von Fiore im 13. Jh. an: Ihre Mystik vom Reich des Geistes als dem Dritten Reich nach dem des Vaters und dem des Sohnes der Trinität wurde Ansatzpunkt für die nationalsozialistische Vereinnahmung der Mystik (137-151).
Die Heidelberger Psychologen Fletcher DuBois und Moritz Deecke machen darauf aufmerksam, dass die Beschäftigung mit dem Dao seit 1909 bei Martin Buber eine sublime Unterströmung bildet, die seine frühen Werke aus der „mystischen“ Phase mit der reifen Philosophie in seiner „dialogischen“ Phase seit „Ich und Du“ von 1957 verbindet und seinen Einfluss auf die Humanistische Psychotherapie begründet (153-171).
Assaad Kattan, orthodoxer Theologe aus dem Libanon in Münster, schließlich hinterfragt die im Westen einflussreiche „Mystische Theologie“ des Exilrussen Vladimir Lossky als apologetisch-orthodoxe Konstruktion von Mystik im 20. Jh. (173-181).
In Teil III stehen daneben die Beiträge zu akademischen Konstruktionen im frühen 20. Jh. zum Thema Mystik:
Volkhard Krech, Religionswissenschaftler in Bochum, stellt innerhalb der Wissenschaftsgeschichte die Mystik-Konzepte von Max Weber, Georg Simmel und Ernst Troeltsch vor (185-214).
Die Berliner Kollegin Almut-Barbara Renger ergänzt zu Troeltsch, Max Scheler und Webers Schüler Paul Honigsheim (215-233).
Ihr Münchener Kollege Michael von Brück denkt im Blick auf Rudolf Ottos „West-Östliche Mystik“ über Polyvalenz und Äquivalenz im Diskurs von Buddhisten, Christen und Hindus nach – angesichts dessen, dass etwa der Zen-Philosoph Shizuteru Ueda beim anscheinend selben Grundanliegen von „Nicht-Mystik“ spricht (235-248).
Der rumänische Eliade-Spezialist Liviu Bordaş schließlich legt ausführlich dar, wie der junge Gelehrte Mircea Eliade geistiges Heroentum favorisierte und vom Magischen angezogen wurde, doch dann gegen Rudolf Otto nicht die Magie und den Schamanismus als die Wurzeln von Mystik ansieht. Denn Eliade interpretiert dann Yoga als einen Weg, der das indische rituelle Opfer als einen Akt religiöser, mystischer Kommunion rehabilitierte, und betont: Nicht um „ekstasis“ geht es bei indischer Mystik, sondern um „enstasis“ in mystischer Kontemplation als einer heroischen Lösung für die Erlösung (249-291).
In Teil IV geht es um Beiträge westlicher Forschung zu Insider-Perspektiven im Blick auf Religionen Asiens und Mystik:
Monika Horstmann vom Südasien-Institut Heidelberg erläutert die Tantra-Konzepte, die dem privaten Yoga und gemeinschaftlichen Gottesdienst seit den frühesten Zeugnissen im 17. Jh. aus dem Milieu der nordindischen Sant-Religion zugrunde liegen: Sie stellen performative Akte dar, durch die der höchste Status der Einheit ins Sein imaginiert wird, wobei wie bei den Sikhs die Schriften von Kabir Ausgangspunkt sind, die Hinduismus und Islam zusammenbringen (295-313).
Timon Reichl legt aus seinen Promotionsstudien zu zeitgenössischen Interaktionen von christlichen, buddhistischen und hinduistischen monastischen Traditionen ein Mapping der Ambiguität von „buddhistischer Mystik“ vor. Damit plädiert er für eine mystische oder experimentelle Theorie von Religion, die mit interkultureller Formations-Geschichte zusammenhängt und vom Terminus „Mystik“ unterschieden werden sollte (315-339).
Der Berliner Sinologe Florian Reiter schließlich thematisiert Mystik unter ihren praktischen Aspekten im Exorzismus der daoistischen Rituale der Donnermagie des 11./12. Jahrhunderts: Sie geht davon aus, dass jeder Mensch im Mutterleib das Maximum der himmlischen Gabe des Lebens erhält, die dem göttlichen Potential im Kosmos entspricht. Diese „Früherer Himmel“ genannte Begabung ließ sich durch Ausbildung entwickeln und in Schutzritualen einsetzen. Im Übrigen ist das als wu wei im Daoismus gelehrte Nicht Handeln ein Tun, das möglichst absichtslos ist wie das der Natur, ohne auf sich zu reflektieren. Dieser Gedanke wurde im ostasiatischen Buddhismus aufgenommen und stellt keine Bestätigung einer universalen monotheistischen Religion dar (343-359) – auch wenn seit der Eckhart-Rezeption mit Keiji Nishitanis Buch von 1971 in der Kyoto-Schule Konvergenzen mit westlicher Mystik zu beachten sind.
Drei Beiträge zu Mystik und moderner Spiritualität runden den Band ab. Der Wiener Religionswissenschaftler Karl Baier thematisiert die Beziehungen zwischen der Psychedelischen Bewegung und wissenschaftlichen Studien zur Mystik: Aldous Huxley, der mit der kalifornischen Vedanta Society meditierte und über Drogen-induzierte Mystik publizierte, bekannte 1954, er habe durch Meskalin-Genuss die von Eckhart Istigkeit genannte nackte menschliche Existenz erfahren und kenne damit die Höhe der Kontemplation. Doch fehle ihm noch die Realisierung von deren Fülle wie in der vita activa von Martha, welche Eckharts Predigt 28 in der Interpretation von Lukas 10,38-42 über die vita contemplativa ihrer Schwester Maria stellte: die Realisation der Allgegenwart Gottes, die in der Welt tätig werden lässt (363-396).
Annette Wilke schließt mit einem großen Artikel zu Advaita-Vedanta, Mystik und philosophia perennis an: Ramakrishnas Schüler Vivekananda hatte, als er beim Weltparlament der Religionen“ auf der Weltausstellung in Chicago 1893 für die altindische All-Einheits-Lehre von Selbst, Welt und Gottheit warb, den bisher den Brahmanen vorbehaltenen Advaita-Vedanta popularisiert in den Westen gebracht. In dieser Tradition vom Guru als „Lebendes Wort“, als sinnlich wahrnehmbare Form immanenter Transzendenz, wurde Huxleys Suche mit einem Riesenerfolg von modernen Meistern wie Chinmayananda und Dayananda aufgenommen: Sie lehrten die Originalquellen zur Atman-Brahman-Relation öffentlich als universale Botschaft für alle unabhängig von Kaste, Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Nationalität. 1990 charakterisierte eine Publikation der Chinmayananda Mission entsprechend das Leben in der All-Einheit durch „a profound concern for the problems of the world and an uncredible unconcern for their own“ (397-451).
Der englische Indologe Richard King sieht hier Tendenzen zu einem homogenisierten Angebot „globaler Spiritualität“, die nicht länger an die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren der sog. „Weltreligionen“ gebunden ist (453-466).
Wie die Herausgeberin am Schluss ihrer Einleitung kommentiert, endet so der Mystik-Boom und die Konstruktion von Mystik als etwas Universales mit postmoderner Spiritualität, die in Populärkultur und Forschung den Platz der Mystik absorbiert: „Instead, we find that mysticism – both as term and as concept – ends to return to more traditional forms as an alternative to alternative spirituality.“ Entsprechend sind heute die Religionsgemeinschaften aufgerufen, der Vertiefung und Verlebendigung ihrer Traditionen durch die mystischen Interpretationen in ihrer Geschichte nachzugehen und in ihrer Dogmatik die je eigene Basis für Mystik herauszuarbeiten. So liegt ein über wissenschaftliche Insider-Gespräche hinaus vielseitig anregender Band vor.
Prof. Dr. Christoph Elsas, Marburg
Dieser Titel wurde bereits als Buch des Monats Januar 2022 präsentiert >>>