Dalai Lama / Michael von Brück: Wagnis und Verzicht. Die ermutigende Botschaft des Dalai Lama.
Übersetzt von Elisabeth Liebel.
München: Kösel 2019, 256 S. – 978-3-466-37235-5
Im Austausch von westlichem und östlichem Denken stellen sich Michael von Brück als westlicher Religionswissenschaftler und der Dalai Lama als geistliches Oberhaupt der Tibeter der Frage, ob die Menschheit angesichts der Übermacht der „zerstörerischen Potentiale“ (ebd. S. 7) noch eine Chance für eine bessere Zukunft hat.
Beide Gesprächspartner treten dafür ein, aber nur unter der Voraussetzung der Entwicklung eines „transformierten Bewusstseins“( S. 10), das auch eine Transformation der Religionen zur Folge haben muss. Um dies zu realisieren, bedarf es eines Gleichgewichts zwischen „Wagnis und Verzicht“ auf der Basis von Vernunft, Einsicht und Geduld.
Als wesentliche Faktoren erscheinen dabei Bildung und Erziehung. Während der Dalai Lama aber durchaus positiv „die grundlegend menschliche Natur von Mitgefühl geprägt“ (S. 43) sieht, das sich schon bei kleinen Kindern im sozialen Umgang zeige, führt Michael von Brück zugleich das ausgeprägte Konkurrenzverhalten an, das evolutionär bedingt sei und sich etwa in Territorialkämpfen offenbare.
Nach Ansicht beider Gesprächspartner sei jedoch die Schulung der „emotionalen Fähigkeiten“ (S. 49) notwendig, insbesondere der „Selbstbeherrschung“ als oberstes Ziel im Buddhismus, das auch nach Meinung des Dalai Lama als „Fürsorge für sich selbst“ (S. 51) zu verstehen sei.
Die Kraft zur Veränderung aber gründe letztlich in der Verbindung zur „göttlichen Energie“ (S. 63) als der eigenen „tieferen Natur“ oder der „Buddhanatur“ (ebd.), sei es durch Meditation oder durch Glaube und Gebet, wie im Christentum.
Nicht Egoismus, sondern Altruismus führe somit zu Zufriedenheit und persönlicher Erfüllung in der Erkenntnis der „wechselseitigen Bezogenheit“ allen Seins im östlichen Denken oder, wie es Albert Schweitzer für das westliche Denken als „Ehrfurcht vor dem Leben“ (zit. S. 65) aus dem mystischen Einheitserleben formulierte.
Beispiele für solch eine ganzheitliche Bildung gebe es schon. So führt Michael von Brück ein Projekt von Otto Scharmer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) an, das die „horizontale Ausbreitung“ (S. 99) von Faktenwissen durch eine „vertikale“ Entwicklung sozialer und emotionaler Fähigkeiten ergänzt, um zu einer Transformation von Wahrnehmung und Denken und von der Linearität zur Vernetzung von Strukturen zu gelangen. Auf solche Weise sei auch die Planung „langer Zeitperspektiven“ möglich (ebd.).
Eine solche Transformation des Bewusstseins aber beträfe auch das Verhältnis der Religionen zueinander. So gibt es nach Ansicht des Buddhismus zwei Wahrheiten: eine „höchste Wahrheit“, die die wechselseitige Beziehung allen Seins in der „Leerheit der Dinge“ („shunyata“, S. 146) enthält, und eine „konventionelle Wahrheit“ (S. 125), die relativ ist und sich in den unterschiedlichen religiösen Konzepten niederschlägt. Hier gelte es nach Ansicht des Dalai Lamas „die Pluralität der Weltanschauungen zu akzeptieren“ (S. 136), um sich aus dem isolierten Denken zu befreien.
Dieser Ansatz lasse sich nach Michael von Brück auch aus der christlichen Tradition unterstützen gemäß dem Satz „deus semper maior“ (zit. S. 124), d.h. nur die „Suche nach der Wahrheit“(S. 124), nicht aber deren absolute Erkenntnis ist möglich.
Innerhalb einer globalisierten Gesellschaft aber könne eine solche Demokratisierung unabhängig von den institutionalisierten Religionen durch Wechsel der religiösen Identitäten bzw. doppelte Religions-zugehörigkeit bereits nachgewiesen werden.
Die Transformation des Bewusstseins im Sinne eines ganzheitlichen Denkens sollte sich jedoch nicht nur auf die Religion, sondern auf alle Lebensbereiche beziehen, wie etwa auch auf Wirtschaft, Ökologie und Technologie, um so statt Wettbewerb Kooperation zu fördern. Auf Grund der wechselseitigen Verflechtung diene nicht der Egoismus, sondern der Altruismus durch Investitionen in die Gemeinschaft auch dem „ureigensten Interesse“(Michael von Brück, S. 152).
Im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft ergibt sich somit vor allem die Notwendigkeit einer „globalen Ethik“ (M.v. Brück, S. 199), die einerseits auf die „stabilisierende Kraft“ (ebd.) der Religion zurückgreifen könne, andererseits aber auch eine „säkulare Ethik“ (S. 202) entwickeln müsse – auf der Basis eines Wertekonsens durch „interkulturelle Verständigung“ (S. 202). Da Wahrheit in der Moderne nicht mehr als ontologisch vorgegeben, sondern als intersubjektiv verhandelbar gilt – gemäß des jeweiligen sozio-kulturellen Kontextes–, muss sich auch die Religion als „vernunftorientiert“ und „pluralistisch“ (S. 221) dem interreligiösen Diskurs stellen. Eine solche „globale Ethik“, die jeglichem Fundamentalismus entgegenwirke, sollte auch institutionell gefördert und im Bildungssystem verankert werden.
Das Konzept einer „säkularen Ethik“ sieht auch der Dalai Lama als Grundvoraussetzung eines Zukunftsentwurfs für das 21.Jahrhundert an. Dabei müsse sich ein „umfassender Respekt für alle Religionen ohne jede Voreingenommenheit“ (Dalai Lama, S. 248), wie er auch dem indischen Begriffsverständnis entspreche, mit einer „Erziehung des Herzens“ verbinden. Einzubeziehen ist auch – wissenschaftlich – die „Funktionsweise des Geistes und der Emotionen“ (S. 248). Vorbilder gebe es, wie auch bereits früher angeführt, in den Schulen Nordamerikas und Europas in dem Unterrichtsfach „SEE – Soziales, Emotionales und Ethisches Lernen“ (S. 249). In der Einsicht in die „wechselseitige Verbundenheit“ (S. 240) allen Lebens sei so erst die Entwicklung eines „universellen Verantwortungsgefühls“ (ebd.) möglich, das der Menschheit helfe, ihren Wunsch nach Frieden und individuellem Glück zu realisieren.
Beide Gesprächspartner treffen sich so in Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach den Zukunftschancen der Menschheit im Entwurf eines positiven Konzepts, das aber auf einem Paradigmenwechsel vom materialistischen zum idealistischen Denken und vom Konkurrenzverhalten zur Kooperation beruht. Dass dieses möglich sei, gründet zum einen nach Ansicht des Dalai Lama in der eigentlich altruistischen, mitfühlenden Natur des Menschen, zum anderen aus westlicher Sicht auf einem „vernunftbasierten“, interkulturellen und interreligiösen Diskurs, der aber auch durch die „Erziehung des Herzens“ und somit durch die Entwicklung sozialer und emotionaler Fähigkeiten ergänzt werden müsse.
Es ist zu hoffen, dass dieses optimistische Konzept in einer globalisierten Gesellschaft, die auf Kommunikation und Verständigung gründet, sich durchsetzen möge und im Sinne einer universellen säkularen Ethik zu der Erkenntnis verhelfe, dass der Altruismus auch den Eigeninteressen diene, da wir letztlich alle aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind.
Vgl. auch die Rezension von Reinhard Kirste in „Ein-Sichten“ (27.11.2019):
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2019/11/dalai-lama-michael-von-bruck-mut-zum.html
Dr. Eva Wolff-Maurmann, Dortmund