Naher und Mittlerer Osten:
Aufbrüche – Krisen – Hoffnungen

Udo Steinbach: Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft.
Der Nahe Osten seit 1906.

Stuttgart: Kohlhammer 2021, 607 S.

ISBN-13: 978-317031-338-5

Verlagsinformation mit Inhaltsverzeichnis und Leseprobe

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Udo Steinbach (*1943), Islamwissenschaftler und klassischer Philologe (wikipedia)

Homepage von Udo Steinbach (mit Veröffentlichungen)

Inhaltsübersicht

Einführung – ein wechselvolles Jahrhundert

  1. Das 18. Jahrhundert – Vorabend der Neuzeit
  2. Zwischen Diktat und Erneuerung – die europäische Herausforderung
  3. Das Jahrhundert der Reformen
  4. Die Erneuerung in Kultur und Lebenswelten
  5. Der Eintritt ins revolutionäre Jahrhundert
  6. Figuren auf dem Schachbrett von Machtpolitik
  7. Signale des Aufbruchs – das säkulare Paradigma
  8. Der Nahe Osten nach dem Zweiten Weltkrieg
  9. Der sozio-kulturelle Aufbruch – Ringen um die Moderne
  10. Zwischen Revolutionen und Terror
  11. Der Weg in die Sackgasse – die große Revolte
  12. Im Schatten der Weltmächte
  13. Der Zusammenbruch der Ordnung: 2014–2020
  14. Der Nahe Osten geht nicht unter – Ausblick auf die neue Ordnung

„Noch ein Nahost-Buch? Der Orientalist Udo Steinbach zeigt, dass es in der Geschichte des Nahen Ostens noch viel zu entdecken gibt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es geradezu eine Schwemme von Büchern über den Islam, den Nahen Osten sowie orientalische Krisen, Kriege und Herausforderungen. Ständig tauchten neue Nahostexperten auf, die uns mit ihren Werken informierten oder strapazierten. Da könnte ein weiteres Buch zur Geschichte des Nahen Ostens in den vergangenen 100 Jahren zunächst Skepsis erwecken. Ein Blick auf den Autorennamen jedoch löste erwartungsfrohes Interesse aus. Verfasser des neuen Buches ist Udo Steinbach, der Grand Seigneur unter den deutschen Orient-Experten.

Seit Anfang der 1970er-Jahre hat sich Steinbach als Pionier in Deutschland mit dem modernen Nahen Osten auseinander gesetzt, ein Stiefkind der traditionellen deutschen Islamwissenschaft, die damals noch „Orientalistik“ hieß und wenig im Sinn hatte mit der Moderne. Er hat seither 50 Jahre in wechselnden Experten-Funktionen gewirkt und eine Reihe wichtiger Werke sowie zahllose Artikel über die Gegenwart und neuere Geschichte des Orients im weitesten Sinne vorgelegt. Deshalb war der Rezensent auf diesen neuen Steinbach sehr gespannt und wurde – nehmen wir es vorweg – nicht enttäuscht. Auf 600 Seiten legt Udo Steinbach ein breites historisches Tableau aus. Dabei beginnt er durchaus nicht, wie man aus dem Untertitel schließen könnte, erst im Jahr 1906, sondern geht bis ins 18. Jahrhundert zurück, eine Epoche, die bis vor Kurzem bezüglich des Orients eher im Windschatten anderer Perioden lag. Der „rote Faden“, so schreibt der Autor auf S. 17, liege in den historischen Zusammenhängen, die letztlich in eine hochkomplexe Gegenwart münden, welche nur aus den geschichtlichen Abläufen verständlich werden kann. Da Steinbach dabei auch ideengeschichtlichen Strömungen Raum gibt, wird seine Hinführung zur eigentlichen Kernperiode der Darstellung ausführlich und detailreich. Dies ist jedoch kein Nachteil, sondern positiv zu werten. Dem Leser erschließen sich so geistesgeschichtliche Hintergründe und Voraussetzungen, welche auch gebildeten Zeitgenossen nicht ohne weiteres geläufig sein dürften. Dabei gibt es sprachliche Eigenheiten und Anspielungen, die den eingeweihten Leser schmunzeln lassen – etwa die „Fürsorgliche Vereinnahmung“ des Orients durch den Okzident, die an Bölls „Fürsorgliche Belagerung“ erinnert.

Das Jahr 1906, mit dem laut Untertitel „offiziell“ das Kernstück des Buches beginnt, ist kein allgemein bekanntes Eckdatum der nahöstlichen Geschichte – es ist das Jahr der iranischen Verfassung und des ersten iranischen Parlaments. Dies weist auf einen besonderen Zug des Werkes hin: Es behandelt in gleicher Weise die arabische Welt, die Türkei sowie Iran und Afghanistan und geht auch auf den Kaukasus ein. Dies macht einen besonderen Wert des Buches aus. Die gegenseitigen Einflüsse und Abhängigkeiten zwischen diesen unterschiedlichen Sphären werden ebenso deutlich wie die Unterschiede und Gegensätze.

In 15 großen Kapiteln, die ihrerseits weiter untergliedert sind, führt Udo Steinbach den Leser durch die moderne Geschichte der islamischen Welt und praktisch alle ihre Aspekte. Einerseits bietet er dabei viele Einzelheiten und Fakten, andererseits immer auch die Zusammenschau, die Synthese, den Überblick, die Analyse. Der Leser wird nie mit einem Haufen schwer verständlicher Details und Ereignissen allein gelassen. Steinbach erklärt den Orient, er lässt Zusammenhänge entstehen und nachvollziehbar werden. Seine Darstellung endet auch nicht in der Gegenwart. Steinbach wagt den – nicht risikolosen – prognostischen Ausblick. Zwar hat er Verständnis dafür, dass viele Beobachter die letzten Jahre als chaotische Situation bewerten, votiert jedoch für eine eher positive Lesart: „Alles ist im Fluss.“ Steinbachs tour d’horizon ist gleichermaßen Bestandsaufnahme der aktuellen Lage und Skizzierung von Zukunftsperspektiven. Dabei erteilt er zwar dem Konzept von „Frühlingen“ eine Abfuhr, da diese zwangsläufig und absehbar in einen Sommer münden, wir es aber in Nahost mit längeren Prozessen zu tun haben, deren Verlauf auch nicht ungebrochen positiv sein muss. Denn „dunkle Wolken“ übersieht Steinbach nicht, möchte sich aber dennoch mehr „an den Lichtblicken“ orientieren, die ja in Nahost nicht gänzlich fehlen – etwa das Aufblühen einer lebhaften Zivilgesellschaft. Dass seine positiven Perspektiven für Nahost Utopien seien, räumt Steinbach durchaus ein. Doch über die Zukunft der Region nachzudenken „bedeutet, sich in die Dimension des Utopischen zu begeben“. Dabei weiß er, dass wir – Europa, der Westen – eine Rolle in der Gestaltung der Zukunft im Nahen Osten spielen müssen und werden. Er warnt dabei vor „dünkelhaftem Unterton“ sowie engstirnigen, besserwisserischen Forderungen, die oft einen Mangel an Selbstkritik implizieren.

Abschließend macht sich Udo Steinbach die Empfehlung des 1970 geborenen franko-algerischen Autors Kamel Daoud an den Westen zu eigen, nicht das zu sehen, was Angst macht, sondern das wahrzunehmen, was zu Hoffnung Anlass gibt.

Das Buch ist mit einem wissenschaftlichen Apparat von nur 100 Fußnoten durchaus nicht sperrig, sondern benutzerfreundlich. Es ist durch einen Index gut erschlossen und enthält Abbildungen, Karten und ein knappes Literaturverzeichnis – dadurch wird die Benutzung wesentlich erleichtert.

Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich eingehend und fundiert mit dem Nahen Osten beschäftigen muss. Das Werk ist durchaus nicht nur für jene, die einen sehr dichten, konzentrierten Text beachtlicher Länge von vorne bis hinten durchlesen wollen oder können, es eignet sich aufgrund seiner guten Gliederung auch als Handbuch und Nachschlagewerk bestens.“

Dr. Alfred Schlicht, Berlin
Orientalist und ehem. Diplomat im Auswärtigen Dienst

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Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitung Die Tagespost, 16.12.2021