Putin und Russland. Bedrohliche Radikalisierungen

Michael Thumann:
REVANCHE.
Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat
München: C.H. Beck 2023, 2. Aufl., 288 S., Abb.
ISBN 978-3-406-79935-8

Inhaltsverzeichnis und Leseprobe

Als Ende der 1980er-Jahre die Sowjetunion zusammenbrach, ahnte niemand, dass ein ehemaliger KGB-Agent sich über Jahrzehnte als russischer Präsident behaupten würde. Michael Thumann, der seit über 25 Jahren aus Osteuropa für die ZEIT berichtet, legt nun ein atemberaubend geschriebenes Buch mit dem Thema vor: ARCHIPEL PUTIN – INNENANSICHTEN AUS DEM BEDROHLICHSTEN REGIME DER WELT. Der Autor zeichnet Russlands Absturz in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins in einen imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nach. Das Motiv des Diktators und seiner Getreuen: Revanche zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991 und die vermeintliche Demütigung durch den Westen. Putins Herrschaft radikalisiert sich weiter. Es ist das bedrohlichste Regime der Welt.

„Unter Wladimir Putin verabschiedet sich Russland, das eigentlich größte europäische Land, aus Europa. Erneut senkt sich ein Eiserner Vorhang quer durch den Kontinent. Reise ich in dieses Land, werde ich am Flughafen in aller Regel aufgehalten. Der Grenzbeamte hält meinen Pass fest und telefoniert lange mit seinen Vorgesetzten. Ein Mensch im dunklen Anzug, wahrscheinlich Geheimdienst, holt mich ab und führt mich in einen Kellerraum. Darin ein Schreibtisch, eine alte Matratze mit Sprungfedern, kaputte Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fragen beantworten: Wo wohnen sie? Was denken sie über die Militäroperation? Was haben Sie vor in Russland? Ich antworte knapp und frage mich selbst: Komme ich überhaupt noch in das Land? Und komme ich wieder heraus?“ (Michael Thumann).

Thumann hat sein Buch folgendermaßen strukturiert:

Kap. 1:  Mit dem Angriff auf die Ukraine sinnt Russland  auf Revanche,  S. 7

Kap. 2 :  Der Irrweg: Wie deutsche Politiker Putin halfen,  S. 17.

Kap. 3:  Einblicke in die „Ahnengalerie“: Warum die Putschisten von 1991 heute gesiegt haben,  S.41

Kap. 4:  Demokratie-Übungen und die damit verbundenen Hoffnungen der 1990er Jahre,  S. 55.

Kap. 5:  Man kann es nur so nennen: Schurkenrepublik – das tschetschenische Modell,  S. 75

Kap.6:  Hier entwickelt sich die Verbindung mit den neuen Nationalisten. Sie werden Putins gute Freunde in der Welt,  S. 93.

Kap. 7 Als besonders wichtig stellt Thumann den Informationskrieg heraus: Wie die Russen aufgehetzt werden,  S. 109.

Kap. 8: Hier wird der Archipel Putin dargestellt: Russlands System der Straflager,  S. 127.

Kap. 9: Erhellend zeigt sich, wie Wahlen ohne Wahl zum Absturz in die Diktatur führen,  S. 143

„Seit zwei Jahrzehnten steht der frühere Auslandsagent Wladimir Putin an der Spitze Russlands. Putin gelang       es, den eurasischen Koloss nach dem Chaos der neunziger Jahre zu stabilisieren, allerdings zum Preis einer zunehmenden Repression. Eine tiefgreifende Modernisierung gelang ihm nicht, wirtschaftlich stagniert das Land seit Jahren. Der Kremlherr kompensiert diese Schwäche, indem er Russlands Großmachtanspruch           unterstreicht, auch militärisch. Dank einer Verfassungsänderung kann Putin theoretisch bis 2036 regieren – wie   stabil das Moskauer Regime ohne ihn wäre, ist eine offene Frage.“
(Thema Putin, NZZ —)

Kap. 10 Die seltsame Art, Geschichte zu vollziehen: Putins Missbrauch der Vergangenheit S.  155         Überleitung zu:

Kap. 11 Das Ziel der „Spezialoperation“ Wie die Ukraine ausgelöscht werden soll,  S. 173. 

Kap. 12 Planet Putin – Russlands Abschottung,  S. 199:

Vor nicht allzu langer Zeit trat Putin auf dem Valdai-Forum auf (einem seit 2004 jährlich im Herbst in Russland stattfindenden Treffen von Journalisten, Politikern, Experten/Wissenschaftlern und Personen des öffentlichen Lebens aus Russland und anderen Ländern – Redaktion). Dort sagte er, wie dies auch über die Russische Botschaft in Deutschland publiziert wurde: „Warum brauchen wir eine Welt ohne Russland?“

Kap. 13 Hier zeigt der Autor, wie im Imperium der Angst das Volk mobilisiert wird,  S. 225

„Auch mit seinen eigenen Leuten will er nicht kommunizieren – er hat die Pressekonferenz und die verfassungsmäßig vorgeschriebene Rede vor der Föderationsversammlung (sie besteht aus beiden Kammern  des Parlaments – Redaktion) abgesagt, genauso wie den Neujahrsempfang – er will nicht einmal zu „seinen Getreuen“ sprechen“ (tazlab: Größenwahn im Kreml)

Kap. 14 Putin sieht sich im Heiliger Krieg als Rache am Westen,  S. 239: 

Dazu Robert  Gates, der 26 Jahre für den Geheimdienst CIA arbeitete:
Putin setzt offensichtlich auf Quantität statt Qualität. „Er tut das, was russische Armeen schon immer getan haben, nämlich eine große Zahl relativ schlecht ausgerüsteter, schlecht ausgebildeter Wehrpflichtiger an die Front zu schicken, in dem Glauben, dass die Masse siegen wird.“  „Putin believes that it is ‘his destiny’ to restore the Russian Empire“, according to [former U.S. Defense Secretary] Robert Gates. He said: „… he is obsessed with retaking Ukraine, he will hang in there. I think … he … believes … time is on his side, that support in the U.S., support in Europe, and so on, will fray.’ … ‘And he’s doing what Russian armies have always done … sending large numbers of relatively poorly equipped, poorly trained conscripts to the frontlines, in the belief that mass will overcome“ (Newsweek, 29.01.2023)
Im Laufe des Krieges hatte Putin durch eine Teilmobilmachung auch militärisch weniger ausgebildete Männer zum Wehrdienst verpflichtet
(Merkur: „Sieg um jeden Preis“, 30.11.2022).        

Im 15. Kap., dem letzten Abschnitt, geht es um „Triumph oder Armageddon“: Sein letztes Spiel  S. 261.

„Es war der Wunsch Wladimir Putins, dass Alexander Solschenizyns monumentales Epos „Archipel Gulag“ Pflichtlektüre in russischen Schulen wird. Als der Autor 2007 kurz vor seinem Tode den russischen Staatspreis erhielt, besuchte ihn Putin in seiner Wohnung, um ihm persönlich zu gratulieren. 2009 wurde eine gekürzte Fassung der erschütternden Analyse des stalinschen Lagersystems in den Lehrplan aufgenommen. 14 Jahre später soll das Werk jetzt nach Ansicht einflussreicher Duma-Abgeordneter wieder verschwinden. Die Arbeit des Nobelpreisträgers habe „die Prüfung der Zeit nicht bestanden“, befand der Abgeordnete Dmitri Wjatkin. Bildungsminister Sergej Krawzow habe ihm bereits versprochen, dass das Werk aus der Literaturliste gestrichen werde. Dafür sollten Alexander Fadejew und Nikolai Ostrowski, zwei von Stalin hochgeschätzte Autoren, von jungen Russen wieder gelesen werden“ (Merkur, 30.11.2022, a.a.O.).
Beim Weiterlesen (S. 275-281) werden zahlreiche Quellen zum Thema aufgeführt. 

Zusammenfassung

Klar stellt Thumann heraus: Trotz allem, ein Alleinherrscher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich vor allem auf ein Netzwerk früherer KGB-Agenten, dessen Einflussnahme weit über Russland hinausreicht.

Und so ist die Bilanz von Russlands Präsident Putin verheerend – wirtschaftlich, demografisch und politisch. Das Adjektiv „russisch“ steht für Zerstörung, was sich besonders an der Novaya Gazeta als Russlands ältester unabhängige Publikation zeigt. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um seine Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren. Ein Land ist verschwunden, mit dem man zusammenarbeiten und interagieren kann. Nun bleibt nur ein Gebiet, von dem eine Bedrohung ausgeht (taz-Dossier: Krieg in der Ukraine)

In der Buchbesprechung von „Revanche“ im NDR wird dies auf den Punkt gebracht: „Denn ein Land ist mehr als ein Gebiet. Das Territorium geht nirgendwohin, und die Menschen werden zumeist auch bleiben: Selbst heute ist es keine Mehrheit, die Russland verlässt. Ein Land ist eine Kultur, eine Lebensweise, eine Identität, eine Art, in der Welt gesehen zu werden. Das Land ist ein Bindeglied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit – Kontinuität –, und die Zukunft betrifft sowohl das, was heute ist, als auch das, was früher war. Mit Russland verbindet man seit Peter dem Großen die Vorstellung von militärischer Macht. Jetzt hat Putin der Welt gezeigt, dass es überhaupt keine Macht gibt. Dies ist bereits gefährlich für die Sicherheit des Gebiets, das Russland bis vor Kurzem war. Stalins erfolgloser Winterkrieg gegen Finnland (er dauerte von November 1939 bis März 1940 und offenbarte Schwächen der sowjetischen Armee; d. Red.) und veranlasste Hitler zum Einmarsch in die UdSSR – weil die Rote Armee schwach war?“
(Putins Aufstieg ist „Spielart des radikalen neuen Nationalismus“,  Katja Eßbach, NDR, 28.01.2023)  

Dank vielfältiger Unterstützung, auch durch den Beck-Verlag (S. 283), gelang in kurzer Zeit ein flott geschriebenes, leicht lesbares und höchst aktuell-informatives Buch!

Ergänzendes aus folgenden Büchern:

1.  „Das Schröder-Netzwerk“ (s.u)  

“Deutschland hat über viele Jahre die Gefahr ignoriert, die von Putins Regime ausging. Es hat die Warnungen seiner europäischen Nachbarn in den Wind geschlagen und sich von Gas und Öl aus Russland immer abhängiger gemacht. Die Folge ist eine schwere Wirtschaftskrise, die den Wohlstand der Bundesrepublik langfristig schmälern wird. Wie konnte es dazu kommen? Welche Rolle spielte dabei Gerhard Schröder als SPD-Bundeskanzler und späterer Gas-Lobbyist mit seinem weitverzweigten Netz in Politik und Wirtschaft? Warum schlug CDU-Kanzlerin Angela Merkel keinen weitsichtigeren Kurs ein? Welche geschäftlichen und politischen Verbindungen, aber auch welche wirtschaftlichen und strategischen Interessen führten dazu, dass Deutschland auf Putin setzte, obwohl er schon vor seinem Überfall auf die Ukraine Kriege geführt, die Opposition ausgeschaltet und Freiheits- und Menschenrechte missachtet hatte? Die FAZ-Korrespondenten Reinhard Bingener und Markus Wehner decken die Moskau-Connection der deutschen Politik auf und zeigen, wie eine der größten Fehleinschätzungen deutscher Außenpolitik seit 1945 möglich wurde. > Hannover – Berlin – Moskau: Die große Recherche über Gerhard Schröders verhängnisvolles Netzwerk in Politik und Wirtschaft, Wie zwielichtige Honorarkonsuln, ominöse Bauunternehmer, Ex-Stasi-Majore und naive Entspannungspolitiker Deutschland in die Abhängigkeit vom Kreml geführt haben“ (Verlagsinformation).

2.  „Die Wahrheit ist der Feind“ (s.u.)

„Blickt man auf die Entwicklung Russlands unter Putin, dann erscheint der Angriff auf die Ukraine nicht überraschend. Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die chauvinistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie erklärt die tieferen Gründe für eine Politik, die im Westen vielfach kaum wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird. Die Wahrheit ist: Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert darüber hinaus auch in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum. Eine der besten Kennerinnen Russlands erklärt, warum Russland die globale Ordnung offen herausfordert – in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist. Blickt man auf die Entwicklung Russlands unter Putin, dann erscheint der Angriff auf die Ukraine nicht überraschend. Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die chauvinistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie erklärt die tieferen Gründe für eine Politik, die im Westen vielfach kaum wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird. Die Wahrheit ist: Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert darüber hinaus auch in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum. Eine der besten Kennerinnen Russlands erklärt, warum Russland die globale Ordnung offen herausfordert – in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist“ (Verlagsinformation“).

Ergänzende Literaturliste:

  • Atai, Golineh: Die Wahrheit ist der Feind – Warum Russland so anders ist. Rowohlt Berlin 2019 –
    ISBN 978-3-7371-0061-8
  • Bingener, Reinhard / Wehner, Markus: Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit München: C.H. Beck (Beck Paperback) 2023, 304 S. ISBN-10: ‎3406799418 – ISBN-13 : 978-3406799419
  • Koenen, Gerd: Der Russland-Komplex. DIE DEUTSCHEN UND DER OSTEN
    München: C.H.Beck, 3. Aufl., 2023, 560 S.,  5 Abb. ISBN 978-3-406-79951-8
  • Masala, Carlo: Weltunordnung. DIE GLOBALEN KRISEN UND DIE ILLUSIONEN DES WESTENS München: C.H. Beck,  6. Aufl. 2022, 199 S., 8 Graphiken und 2 Karten, ISBN 978-3-406-79325-7

Auswahl von Literatur zur Ukraine (Hintergrund und Aktuelles)

FOCUS UKRAINE: Bedrohte Gegenwart – Schatten der Vergangenheit – Hoffungen

Zu den Büchern von Serhii Plokhy, Mykhailo Hrushevsky Professor of Ukrainian History at Harvard University. Gesamtlink zu den u.a. angezeigten Veröffentlichungen

  • The Gates of Europe: A History of Ukraine. Basic Books 2015
  • The Last empire: The Final Days of the Soviet Union. Basic Books 2015
  • The Cossack Myth: History and Nationhood in the Age of Empires. Studies in European History.
    Cambridge: Cambridge Universoty Press 2012
  • Yalta: The Price of Peace. Viking Press 2010/2011

Weiteres von Serhii Plokhy und dem Harvard Ukrainian Research Institute:

  • Ukraine and Russia: Representations of the Past. University of Toronto Press 2008
  • The Origins of the Slavic Nations: Premodern Identities in Russia, Ukraine and Belarus,
    Cambridge University Press 2006
  • Unmaking Imperial Russia: Mykhailo Hrushevsky and the Writing of Ukrainian History
    University of Toronto Press 2005
  • Together with Frank E. Sysyn: Religion and Nation in Modern Ukraine.
    Edmonton: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2003
  • The Cossacks and Religion in Early Modern Ukraine. Oxford University Press (2001/2004)
  • TSars and Cossacks: A Study in Iconography
  • Harvard Ukrainian Research Institute / Harvard University Press 2002.
    Ukrainian Cossacks used icon painting to investigate their relationship not only with God but also their relationship with the Russian tsar. Could Emperor Peter I and his adversary in the Battle of Poltava (1709) – the Cossack Hetman Ivan Mazepa – be depicted in the same icon? Why did the Cossack colonels commission icons with the portraits of their tsars, but not of their own Cossack leaders, the hetmans? Could a Catholic king be portrayed in an Orthodox icon? Why are the Russian tsars and Orthodox hierarchs missing on some of the Zaporozhian Cossack icons?

                        Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn