Bildungsgeschichte der beiden deutschen Staaten –
Probleme und (verpasste) Chancen

Bernd Rudow: Bildung und Wissenschaft in Ost und West?
Meine Universitäten – eine Bildungsbiographie
Leipzig: Engelsdorfer Verlag 2022, 375 S.

— ISBN 9783969403013 —

Homepage von Bernd Rudow (* 1947)

„Bildung in Kita, Schule, Hochschule und Wirtschaft sowie Bildung durch Wissenschaft und Sport sind die Themen des Buches. Als Zeitzeuge, der an zwanzig Universitäten und Hochschulen in Ost und West über 50 Jahre tätig war, beschreibt Professor Dr. Rudow Bildungs- und Wissenschaftsaspekte in der ehemaligen DDR und in der Bundesrepublik Deutschland. Es werden Vorzüge und Probleme der Bildungssysteme dargestellt. Die positiven Seiten des DDR-Systems wurden im gesellschaftlichen Transformationsprozess bislang kaum beachtet, obwohl das gegenwärtige deutsche Bildungswesen grundlegende Schwächen aufweist. Das Alte des Westens wurde das „Neue“ im Osten. Es fand auch in Bildung und Wissenschaft ein ideenloser Nachbau, jedoch kein kreativer Neubau statt. Die historische Chance für eine zukunftsfähige Bildung und Wissenschaft wurde nach der Wende in den 1990er Jahren vertan. Ausgehend von eigenen profunden Erfahrungen und empirischen Studien macht der Autor konstruktive Vorschläge für die humane Gestaltung von Kita, Schule und Hochschule. Dabei stehen die gesunde Arbeit von Pädagogen, die humanistische und moderne Bildung sowie die Einheit von Lehre und Forschung im Mittelpunkt“ (Verlagsinformation)

Basierend auf einer klaren Gliederung schildert Professor Dr. Bernd Rudow seine Gedanken:

  1.  Einführung: Bildung als lebenslanger Prozess
  2.  Erweiterte Oberschule Wittenberge/Prignitz – meine erste Bildungsstätte
  3.  Die Armeezeit – eine Episode
  4.  Von Wittenberge an die Humboldt-Universität zu Berlin – ein großer Sprung
  5.  Der Weg nach Leipzig an die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) –
      die zwei Seiten des Sports in der DDR
  6.  Universität Leipzig – Beginn der Forschung zur Arbeit, Belastung und Gesundheit von Pädagogen
  7.  Zurück nach Berlin an die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften –
     eine neue wissenschaftliche Herausforderung
  8.  Die Flucht in den Westen und ein Irrweg durch (west-)deutsche Universitäten
  9.  Die freiberufliche wissenschaftliche Arbeit – die Praxis als Erfolgserlebnis
10.  (Fach-)Hochschule Ost – ein Problem
11.  Die wissenschaftliche Arbeit in einem Weltunternehmen
12.  Die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft –
       eine wissenschaftliche und bildungspolitische Aufgabe
13.  Der „Ruhestand“ als Herausforderung
14.  Exkurs: Fußball(-kultur) ist mein „halbes Leben“
15.  Blick zurück nach vorn – eine erste Bilanz.

Ein großes Anlagenverzeichnis schließt das lesenswerte Buch ab.

1949, 1968, 1989 – drei Wegmarken der deutschen Geschichte. Erst der Neuanfang in Trümmern und in zwei getrennten Staaten, dann die Studentenrevolte im Westen und die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz im Osten, schließlich die friedliche Revolution in der DDR und die Wiedervereinigung – diese Umwälzungen haben Generationen geprägt. Sie haben Diskussionen provoziert, in der breiten Öffentlichkeit, auch in den Familien. Sie haben Fragen und Vorwürfe ausgelöst, der Kinder an die Eltern, aber auch umgekehrt. Es ging um Lebensträume und -ängste, um Aufbrüche und Versagen, um Verfehlungen, sowohl was die die eigenen und die vermeintlichen der anderen betraf. Viele Erfahrungen und Gefühle waren anderen Generationen oft kaum vermittelbar. Doch Rudow gelingt es, diese gut zu vermitteln. 

„Begabte Kinder finden und fördern“ – optimaler Entfaltung der individuellen Persönlichkeit zu verhelfen, das war der Auftrag des Staates an die Schule: Leistungen, Wissenszuwachs und persönliche Entwicklung im Horizont des deutlichen Unterschiedes zwischen Land- und Stadtkindern: „Schule ist eine Institution, die Lebenschancen verteilt“. Durch Erwerb von Bildung ist sozialer Aufstieg möglich. Aber Bildungskarriere hängt eben nicht nur von den eigenen intellektuellen Fähigkeiten ab, es braucht auch ein Elternhaus, das die Kinder und Jugendlichen entsprechend fördert.

Als Krönung gilt die akademische Laufbahn: ein kaum kalkulierbares Wagnis mit der Aussicht: Die Fallhöhe im System ist enorm. Wissenschaft ist zwar nach wie vor ein Traumberuf, doch muss man sich die wissenschaftliche Karriere finanziell leisten und sie gegenüber den eigenen Kindern und dem Partner verantworten können. Der akademische Hindernislauf beginnt oft schon mit der Dissertation. Vier bis fünf Jahre tüfteln die meisten Doktoranden daran und setzen sich den Doktorhut im Schnitt erst mit 33 Jahren auf. Der Arbeitsmarkt für solch spezialisiertes Wissen ist in der Regel dünn. Es ist schwer kalkulierbar, ob im passenden Zeitfenster gerade eine Professur für das eigene Spezialgebiet frei ist. Damit aus Lehrjahren keine Leerjahre werden entsteht durch Abwanderung ins Ausland oder in den außeruniversitären Markt oft ein immenser Schaden für die deutsche Wissenschaft. Angesichts des Berufsprestiges  – basierend auf Einkommen, Eigenverantwortung,  Entscheidungs- und Kontrollbefugnis – kommt die Erwartung der Gesellschaft über das außerberufliche Verhalten des Berufsträgers hinzu.

In diesem Rahmen ist ein interessantes Ost-West-Buch entstanden, sozusagen eine Psychologie der Ost-West-Beziehung im Hochschulbereich nach der Wende.
Besonders lesenswert ist die Darstellung der sog. Glücksritter (S. 199 ff).  Eine ausführliche Skizze stellt Kap. 15 quasi als Exkurs dar: Fußball(-kultur) ist mein „halbes Leben“ im Zusammenhang von:

Mein Fußballweg – Fußball als Kultur – Fußball, Literatur und Camus – Fußball und Sprache – Eintracht Frankfurt – Die Fankultur – Quo vadis Fußball? – Was habe ich vom Fußball gelernt?… 

Aus der Rückschau heraus wendet Kap. 16 den Blick nach vorn. So entsteht eine facettenreiche Vita im Kontext von: Ost und West sind sich fremd – Das Bildungs- und Wissenschaftssystem muss reformiert werden – Wie soll ich „Demokratie“ lernen?! Aber das Fazit klingt optimistisch:  Ein glückliches Leben – ich bin „vor Anker“ gegangen.

Der Autor hält aber auch fest: Nach der Wende gab es keine Gerechtigkeit bei der Besetzung durch die Eliten. Die wichtigsten Posten haben Leute aus dem Westen unter sich verteilt, unabhängig von der Kompetenz östlicher Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Eine international erfahrene Wissenschaftlerin aus Sachsen sagte es so „Von vielen Mensch im Westen kann man sich auch heute noch mehr Wertschätzung und die Umbruchs-Kompetenz der Ostdeutschen wünschen.“

Damit man sich auch begrifflich gut zurecht findet, hat Rudow Namen, Begriffe und Abkürzungen aus der DDR-Zeit übersichtlich erklärt. Es ist für interessierte Bundesbürger/innen, aber auch für die Generationen gedacht, für die die DDR Vergangenheit ist.

So besticht das Buch durch kenntnisreiche und gut lesbare Erfahrungen im Kontext der beiden deutschen Staaten, eine lesenswerte Geschichte, geschrieben mit analytischer Klarheit und präzisen Bewertungen.

Schlussendlich die Aufforderung im Blick auf die Bildung:

Planst Du für ein Jahr, so säe Korn,

planst Du für ein Jahrzehnt, so pflanze Bäume,

planst Du für ein Leben, so bilde Menschen.

(Guan Zhong, auch Guanzi, gest. 645 v. Chr.)

Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn
Rz-Rudow-Bildung-Ost-West, April 2022

Anmerkungen

— Vgl. Gary Becker (1964). Human Capital. New York: Columbia University Press.
— Ralf Dahrendorf, Ralf (1965). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik.
— Bereits Otto Fürst von Bismarck sah die Problematik (1890):

Zur Gefahr eines akademischen Proletariats – Immediateneingabe vom 16. März 1890

Vgl. dazu Jutta Allmendinger: Über den Zusammenhang von Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe in der heutigen Gesellschaft (bpb, 03.05.2013)                 

Die Chancengerechtigkeit in der Bildung in Deutschland hat sich für Kinder aus Nichtakademikerfamilien in den letzten Jahren über alle Bildungsstufen verbessert. Gelingt ihnen der Wechsel an eine Hochschule, dann sind sie ähnlich erfolgreich wie Akademikerkinder. Trotz dieser positiven Entwicklung gilt aber: Nach wie vor entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft über den Bildungserfolg. Das ist der Tenor zu chancengerechter Bildung im Rahmen des Hochschul-Bildung-Reports.
Vgl. auch Martin Sabrow / Tilmann Siebeneichner, Peter Ulrich Weiß (Hg.): „1989 – Eine Epochenzäsur?“
Göttingen: Wallstein Verlag 2021.

Weitere Infos über diese Links:
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