Martyrium und [Selbst-]Opfer im Kontext des modernen Mittleren Ostens

Sasha Dehghani / Silvia Horsch (eds.):
Martyrdom in the Modern Middle East.
Ex Oriente Lux, Band 14.
Würzburg: Ergon 2014, 225 S., Abb.
ISBN 978-3-95650-030-5 —
Autoren (authors (update):
> Sasha Dehghani
> Silvia Horsch

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Martyrium und [Selbst-]Opfer (nicht nur) in den Religionen und nicht nur im Mittleren Osten

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Martyrdom and [self-]sacrifice (not only) in religions and not only in the Middle East

Rezension

Dieser Band präsentiert die überarbeiteten Beiträge eines Workshops an der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 2011: “Traditions of Martyrdom in the Modern Middle East”. Entstanden ist dadurch eine Vergleichsperspektive im Blick auf das Märtyrerverständnis in den monotheistischen Religionen, aber auch unter Berücksichtigung hinduistischer Traditionen am Beispiel von Mahatma Gandhi. Ein gewisser Schwerpunkt liegt dabei auf dem Baha’i-Glauben. Insgesamt werden von den einzelnen AutorInnen soziologische, philosophische und theologische Aspekte des Märtyrertums in Vergangenheit und Gegenwart wirkungsgeschichtlich untersucht. Die Konfliktsituationen in ihrer Unterschiedlichkeit bringen auch Märtyrerprofile in erstaunlicher Vielgestaltigkeit hervor. Dies schlägt sich in bestimmten Ritualen, aber auch in den künstlerischen Darstellungen nieder.
Was hier für den Mittleren Osten genauer bedacht wird, hat erhebliche Auswirkungen auf Praktiken eines Martyriums insgesamt, das sich zwischen einem ungewollten Hineingeraten in eine Märtyrersituation und dem bewussten Suchen der Märtyrerrolle bewegt.

Die beiden Herausgeber, Sasha Dehghani (FU Berlin, jetzt im Bahai-Zentrum Haifa) und Silvia Horsch (Universität Osnabrück) verweisen bereits in der Einleitung auf die erheblichen Variationen und Veränderungen im Bild des Märtyrers, das in gewisser Weise alle monotheistischen Religionen prägt: Die Entwicklungen, Transformationen, historischen Manifestationen und kulturellen Besonderheiten erlauben nicht, von „wahren“ oder „falschen Märtyrern“ zu reden. Es gilt, die jeweilige geschichtliche Situation zu berücksichtigen, die Martyrien möglich machen und dann zu bedenken, wie in der Erinnerung an sie Verehrung entsteht (vgl. S. 8).

In drei Themenkreisen behandeln die AutorInnen darum verschiedene Aspekte des Martyriums:

1.  Kontinuität und Transformation: Martyrium im Baha’i-Glauben

Die Baha’i-Religion ist sehr stark durch Martyriums-Erfahrungen geprägt, weil sie von Anfang an unter dem Druck des Staates und der Mehrheitsreligion stand – übrigens ähnlich wie das frühe Christentum. Darauf verweist Sasha Dehghani und betont zugleich die völlig gewaltfreie Ausrichtung dieser monotheistischen Religion – gerade wenn man die religiös begründeten Baha’i-Verfolgungen im Iran und anderen islamisch geprägten Ländern ansieht. Auch Per-Olof Akerdal (Gävle, Schweden) nimmt das Martyriumsverständnis im Baha’i-Glauben auf  und spiegelt es  in den anderen monotheistischen Religionen unter besonderer Berücksichtigung der Kreuzigung Jesu und der schiitischen Bedeutung von Husseins Martyrium in Kerbela. Er führt das beispielhaft an der Baha’i-Gemeinschaft von Ishqabad in Turkmenistan des 20. Jahrhunderts vor. Schließlich stellt der aus dem Iran stammende Religionsforscher Moojan Momen die unterschiedliche Typik der Martyrien in der Schia und im Baha’i-Glauben vor, geografisch zugespitzt an Kerbela und Täbriz: die politische Aktivierung von Kerbela durch die islamische Revolution des Iran 1979 und die passive unpolitische Leidensfähigkeit des Bab, Vorgänger von Bahá’u’lláh, in Täbriz. (1850).

2.  Bezeugung und Opfer: Theologische und philosophische Implikationen des Martyriums

In diesem Kapitel wird der Blick über den Baha’i-Glauben hinaus geweitet. Die Kulturwissenschaftlerin und Arabistin Angelika Neuwirth (FU Berlin) sieht sich sunnitische und schiitische „Passionsgeschichten“ in der Spannung von Legende und historischer Realität genauer an, um auf den Wesensunterschied von Koran und neutestamentlichen Passionsgeschichten zu verweisen: Der Kreuzestod Christi ist in islamischer Sicht nicht akzeptabel, dennoch hat das christliche Märtyrerverständnis in der Schia Spuren hinterlassen, während in sunnitischen Gesellschaften die mystisch-leidende opferbereite Liebe zum Ideal wurde. Das allerdings hat sich im 20. Jahrhundert, besonders in Palästina durch den Verlust des eigenen Landes, verändert, und zwar konzentriert auf das politische Märtyrertum. Als christliches Beispiel bringt der Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph Joachim Negel (Münster / Marburg) das Glaubenszeugnis und den Tod der Trappistenmönche von Tibhirine (Algerien) ein. Sie lebten ihre Sinn- und Leben-stiftende Wahrheit so intensiv, dass sie von vornherein bereit waren, gegebenenfalls dafür zu sterben. Einen noch anderen Gesichtspunkt bringt Faisal Devji (Oxford), indem er die Souveränität in Gandhis gewaltlosen Aktionen bis hin zum Risiko des Todes beschreibt. Gandhi setzte der Militanz der Macht die den Tod bewusst in Kauf nehmende Ohn-Macht entgegen. Dies wurde zum Zeichen, sich gewaltlos für das Recht auf Leben zu engagieren.

3.  Visuelle Repräsentationen des Martyriums in Ritualen, Künsten und Neuen Medien

Es ist erstaunlich, wie (parteilich) Mord und Martyrium künstlerisch aufgegriffen werden, etwa durch eine Theate- Performance zum Stichwort „Massaker“ von Maryam Palizban, eine aus dem Iran stammende Schauspielerin und Theaterwissenschaftlerin (Berlin) oder die mystische Idealisierung des vollkommenen Menschen (Märtyrers) bei Malern der iranischen Revolution, beschrieben von Alice Bombardier, einerfranzösisch-iranischen Soziologin (Paris), oder die von Silvia Horsch präsentierten Visualisierungen des Erlösungsgedanken in den vom gewalttätigen Djihadismus und Salafismus geprägten Medien.

4.  Politische Aktion und ideologischer Diskurs

Die Recherchen zum ideologischen Diskurs im Blick auf bestimmte politische Aktionen oder deren Rechtfertigung wirkt besonders spannend. Farahad Khosrokhavar, ein französisch-iranischer Soziologe (Paris), zeigt, wie sich seit dem Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus der djihad veränderte und wie sich damit (eher lose) das Märtyrertum verband, und zwar zur Erhaltung des Glaubens und für Gerechtigkeit und Menschenwürde. Der Arabische Frühling hat übrigens an der Entwicklung in Tunesien gezeigt, wie die Gewaltlosigkeit auch gegen den Feind dominieren kann. Daneben aber lässt sich an Syrien, Libyen und Jemen beunruhigend ablesen, dass der Schritt zur gewaltsamen Beseitigung autoritärer Herrscher sehr schnell gegangen wird und der Tod im gewaltsamen Aufbegehren Qualitäten des Martyriums (wieder) gewinnt. Lisa Franke (Leipzig) dagegen ermöglicht durch Ihre Eingrenzung auf den Palästina-Konflikt das dort entstandene Phänomen des istishhadiyyat, genauer zu beschreiben, nämlich  wie in einer Widerstandssituation Menschen sich bewusst zum Märtyrer machen.

Silvia Horsch versucht im Schlussbeitrag ein vorläufiges Resümee unter globaler Sicht zu ziehen: Faktische Situationen der möglichen und durchgeführten Selbstopferung für ein ethisch oder politisch erklärtes Ziel werden in Ost und West teilweise recht unterschiedlich gesehen. Im Gedächtnis bleiben die Protesthandlungen durch Selbstverbrennungen besonders in Asien und die Selbstmord-Attentate im Nahen Osten, aber auch in westlichen Ländern. Die Autorin ruft einige dramatische Ereignisse der Selbstopferung und der „suicid bombers“ seit dem Vietnamkrieg auch mit einigen Bildbeispielen ins Gedächtnis. Sie betont, dass bei der Beurteilung dieser Ereignisse säkulare und religiöse Motivationen ineinander fließen. Das erlaubt kein einfaches Erklärungsmuster im Sinne von „heilig“ oder „profan“.

Bilanz: Das Buch bietet wichtige Einsichten in die religiös-theologischen Grundmuster von(Selbst-)Opfer und Martyrium, hauptsächlich in den monotheistischen Religionen und in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Es ist ein weiterführender Beitrag zur Aufarbeitung eines politisch-kulturell-religiösen Spannungsfeldes, das angesichts von Unterdrückung und Konflikt aktuell mit zum Teil heftiger Deutlichkeit auftritt. Die ungewollten und gewollten Martyrien sind eine Herausforderung an Menschenwürde und Menschenrechte. Die Wiederherstellung der Humanität gehört zu den dringendsten globalen Aufgaben!

Review

This volume presents the revised contributions to a workshop held at the Free University of Berlin in 2011: “Traditions of Martyrdom in the Modern Middle East”. The result is a comparative perspective on the notion of martyrdom in the monotheistic religions, but also taking into account Hindu traditions with the example of Mahatma Gandhi. A certain focus is placed on the Baha’i faith. Overall, the individual authors examine sociological, philosophical and theological aspects of martyrdom in the past and the present in light of their historical impact. The diversity of situations of conflict also generates an astonishing variety of profiles of the martyr. This finds expression in certain rituals, but also in artistic portrayals. What is considered here in more detail with regard to the Middle East has a substantial impact on practices of martyrdom in general, which range from getting into the situation of a martyr involuntarily and seeking the role of a martyr consciously.

In the introduction the two editors, Sasha Dehghani (FU Berlin, now at the Bahai Centre Haifa) and Silvia Horsch (University of Osnabrück) already refer to the significant variations and changes in the image of the martyr, which to some extent characterize all monotheistic religions: the developments, transformations, historical manifestations and cultural particularities do not allow talk of “true” or “false martyrs”. One must take into account the particular historical situation that makes martyrdom possible, and then consider how veneration arises in their commemoration (see p. 8). Therefore, the authors address various aspects of martyrdom in four thematic sections.

1. Continuity and Transformation: Martyrdom in the Baha’i Faith

The Baha’i religion is very strongly influenced by martyrdom experiences because it was subjected to the oppression of the state and the majority religion from the very beginning – similar, incidentally, to early Christianity. This is pointed out by Sasha Dehghani, who also emphasizes the entirely nonviolent orientation of this monotheistic religion – particularly when you look at the religiously motivated persecutions of Baha’is in Iran and other predominantly Islamic countries. Per-Olof Akerdal (Gävle, Sweden) also takes up the notion of martyrdom in the Baha’i faith, and compares it to the other monotheistic religions, with particular attention to the crucifixion of Jesus and the importance, for Shiites, of Husain’s martyrdom in Karbala. He illustrates this with the example of the Baha’i community of Ishqabad in Turkmenistan in the 20th century. Finally, the Iranian-born researcher of religions Moojan Momen presents the differing typologies of martyrdom among the Shia and in the Baha’i faith, geographically concentrated on Karbala and Tabriz: the political activation of Karbala by the Islamic Revolution of Iran in 1979 and the passive non-political capacity for suffering of the Bab, the forerunner of Bahá’u’lláh, in Tabriz (1850).

2. Testimony and Sacrifice: Theological and Philosophical Implications of Martyrdom

In this chapter, the perspective is expanded beyond the Baha’i faith. The cultural scientist and Arabist Angelika Neuwirth (FU Berlin) takes a closer look at Sunni and Shia “Passion narratives”  caught between legend and historical reality, in order to refer to the essential difference between the Qur’an and the Passion narratives of the New Testament: though Jesus’ death on the cross is not accepted from the Islamic perspective, the Christian notion of martyrdom has left its mark on the Shia, while in Sunni societies mystical-suffering sacrificial love became an ideal. This, however, has changed in the course of the 20th century, particularly in Palestine due to the loss of the native country, with a concentration on political martyrdom. For a Christian example, the scholar of fundamental theology and religious philosophy Joachim Negel (Münster / Marburg) contributes the testimony of faith and the death of the Trappist monks of Tibhirine (Algeria). They lived for their meaningful and life-giving truth with such intensity that from the outset they were ready to die for it, should circumstances require. Still another aspect is shown by Faisal Devji (Oxford), who describes the sovereignty in Gandhi’s nonviolent activities up to the risk of death. Gandhi opposed the militancy of power with a consciously death-accepting powerlessness. This became the symbol of nonviolently committing oneself to the right of life.

3 Visual Representations of Martyrdom in Rituals, Arts, and New Media

It is astounding how (partisan) murder and martyrdom are taken up by the arts, for example by a theatre performance on the keyword “massacre” analyzed by Maryam Palizban, an Iranian-born actress and scholar of theater studies (Berlin); or the mystical idealization of the perfect man (martyr) among painters of the Iranian revolution, described by Alice Bombardier, a French sociologist (Paris); or the visualizations of the idea of salvation in media marked by violent jihadism and Salafism, presented by Silvia Horsch.

4.  Political Activity and Ideological Discourse

The research on ideological discourse in light of certain political activities or their justification appears particularly interesting. Farhad Khosrokhavar, a French-Iranian sociologist (Paris), shows how jihad has changed since the struggle against colonialism and imperialism, and how martyrdom (rather loosely) combined with it, namely for the preservation of the faith and for justice and human dignity. Based on the developments in Tunisia, by the way, the Arab Spring has shown how nonviolence can also dominate against the enemy. Aside from that, however, the cases of Syria, Libya and Yemen indicate alarmingly that the step to violent elimination of authoritarian rulers is taken very quickly and that death as a result of violent rebellion regains qualities of martyrdom. By limiting herself to the conflict in Palestine, Lisa Franke (Leipzig), on the other hand, allows for a more detailed description of the resulting phenomenon of istishhadiyyat, that is to say, how people consciously make martyrs of themselves in a situation of resistance.

In the final paper Silvia Horsch tries to give a preliminary résumé from a global perspective: factual situations of potential and actual self-sacrifice for an ethically or politically declared aim are to some extent seen quite differently in the East and the West. Self-immolations as acts of protest, particularly in Asia, and suicide attacks in the Middle East and also in Western countries remain in one’s memory. The author calls some dramatic events of self-sacrifice and suicide bombings since the Vietnam war to mind, also by means of selected images. She emphasizes that secular and religious motivations merge in the assessment of these events. This does not allow for a simple explanatory model in terms of “sacred” or “profane”.

Summary
The book offers important insights into the religious and theological patterns of (self-) sacrifice and martyrdom, primarily in the monotheistic religions and in societal contexts. It is a helpful contribution to the reappraisal of a political, cultural and religious field of tension, which currently appears with sometimes severe markedness in the face of oppression and conflict. The involuntary and volitional martyrdoms are a challenge to human dignity and human rights. The restoration of humaneness is one of the most pressing global duties!

Reinhard Kirste,
Überarbeitung der  Rezension von 2014